„Themen sind austauschbar – die Feindbilder bleiben“
Das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. (JFDA) beobachtet und dokumentiert demokratiefeindliche und antisemitische Vorkomnisse u.a. auf Demonstrationen. Mit zwei ihrer FeldbeobachterInnen haben wir über ihre Einschätzung der radikalisierten Proteste gesprochen, darüber was konkrete Feindbilder gefährlich macht, wie präsent antisemitische Verschwörungserzählungen sind und welche Rolle „Alternativmedien“ für die Demonstrationen spielen.
Gegenmedien: Sie beobachten und analysieren kontinuierlich antisemitische und demokratiefeindliche Protestdynamiken, AkteurInnen und Vorfälle. Dazu gehören aktuell auch die radikalisierten Proteste im Kontext der Energiekrise. Was beobachten Sie dort?
JFDA: In den letzten Monaten hat sich gezeigt, dass die Themen des verschwörungsideologischen Protestmilieus austauschbar sind – während die Feindbilder in den meisten Fällen dieselben bleiben. Da ist es fast egal, ob es um Corona, den Krieg in der Ukraine oder die Energiekrise geht. Als vermeintlich Schuldige für komplexe Krisenphänomene werden zum Beispiel „die Globalisten“, „die Finanzelite“ oder einzelne politische Entscheidungsträger:innen identifiziert.
Akteure der Proteste gegen die Coronaschutzmaßnahmen haben auch den Krieg in der Ukraine und dessen Folgen schnell in ihr ideologisiertes Weltbild integriert. Seit einiger Zeit betrachten sie sich als eine Art „Friedensbewegung“. Reden und Plakate sind derweil geprägt von antiamerikanischen und antisemitischen Denkmustern. Dieser Antisemitismus ist oft codiert zu beobachten.
In Anbetracht der sich zuspitzenden Inflation und Energiekrise ist es häufig die AfD, die versucht, als Zugpferd der Protestbewegung zu fungieren. Das ließ sich nicht nur bei der Großdemonstration am 8. Oktober in Berlin beobachten, sondern auch bei regionalen Mobilisierungen der letzten Wochen, wie etwa in Magdeburg, Cottbus oder Oranienburg. Der AfD gelingt es immer besser, den Demonstrationen ihren Stempel aufzudrücken: Die Partei meldet die Veranstaltungen an und treibt Bündnisse voran. Für einen möglichst großen Zulauf spielen Unvereinbarkeitsbeschlüsse mit rechtsextremen Akteuren wie den „Freien Sachsen“ oder verschiedenen Tarnorganisationen der „Identitären Bewegung“ kaum mehr eine Rolle.
Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei der Protestbewegung um keine rein rechte oder rechtsextreme handelt. Viele der Teilnehmenden kommen aus der politischen Mitte oder dem linken, grünen oder esoterischen Spektrum. Geeint werden die Teilnehmer:innen durch eine regressive Weltanschauung“
Betrachten Sie die aktuellen Proteste also als rechtsextrem?
Nein. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich bei der Protestbewegung um keine rein rechte oder rechtsextreme handelt. Viele der Teilnehmenden kommen aus der politischen Mitte oder dem linken, grünen oder esoterischen Spektrum. Geeint werden die Teilnehmer:innen durch eine regressive Weltanschauung, die wiederum in vielen Fällen von rechten oder rechtsextremen Akteuren ausgenutzt werden kann und mit antisemitischen Welterklärungsmustern einhergeht. Eine politische Beurteilung aller Beteiligten als rechts oder rechtsextrem greift aber zu kurz. Sie externalisiert die Anfälligkeit für Antisemitismus auf ein politisches Spektrum.
Welche radikalisierten Erzählungen oder Slogans begegnen Ihnen auf der Straße?
Neben antisemitischen Verschwörungserzählungen, die seit Beginn der Coronaproteste viel diskutiert werden, finden sich auch Narrative, die bisher nicht so sehr im Fokus standen. Dazu gehören antiamerikanische Parolen wie „Ami go home“ oder Forderungen nach einem Friedensvertrag, die vor allem im Spektrum der Reichsbürger verbreitet sind. Oft genannte Feindbilder im Kontext des Kriegs in der Ukraine sind die NATO, die USA oder ganz allgemein „der Westen“. Solche Formulierungen gehen nicht nur mit einer Verharmlosung der russischen Aggression einher, sondern beinhalten meist auch eine Täter-Opfer-Umkehr.
In Reden und auf Plakaten werden außerdem seit Monaten Umsturz- und Vergeltungsfantasien geäußert. Man fordert zum Beispiel Konsequenzen für die vermeintlich Verantwortlichen derzeitiger oder vergangener Krisen und benennt die immer wiederkehrenden Feindbilder. In diesem Zusammenhang wird oft auf die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg verwiesen – eine Relativierung des Nationalsozialismus. Hinzu kommen eine teilweise deutlich wahrnehmbare Ablehnung der Demokratie und eine stark ausgeprägte Pressefeindlichkeit, die sich in Beleidigungen, Bedrohungen oder sogar Angriffen ausdrückt.
Wir haben den Eindruck, dass es da oft um reine Machtdemonstration und Raumeinnahme geht und nicht um tatsächliche Kritik an bestehenden Verhältnissen. Insbesondere rechte und rechtsextreme Akteure schüren Ängste und Hass. Sie versuchen so, die eigene politische Agenda mehrheitsfähig werden zu lassen und von der Krise zu profitieren.“
In Städten wie Cottbus erinnern die wöchentlichen Proteste, die ebenfalls von der AfD organisiert werden, weniger an politische Demonstrationen als an militärische Aufmärsche mit Trommeln und Deutschlandfahnen. Wir haben den Eindruck, dass es da oft um reine Machtdemonstration und Raumeinnahme geht und nicht um tatsächliche Kritik an bestehenden Verhältnissen. Insbesondere rechte und rechtsextreme Akteure schüren Ängste und Hass. Sie versuchen so, die eigene politische Agenda mehrheitsfähig werden zu lassen und von der Krise zu profitieren.
Vor dem Hintergrund von Inflation und Energiekrise rückt die Hetze gegen Geflüchtete immer mehr in den Fokus der Proteste. Und mittlerweile richtet sie sich auch gegen Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten, das bedeutet für sie eine konkrete Bedrohung – und hier schließt sich der Kreis zur pro-russischen Desinformation.
Wie unterscheiden sich die aktuellen Proteste von den vorherigen wie zum Beispiel den Coronaprotesten, den sogenannten „Mahnwachen für den Frieden“ oder Pegida?
Die inhaltlichen Schwerpunkte passen sich im Laufe der Zeit an aktuelle Krisen und politische Situationen an. Zu Beginn der jeweiligen Krise steht bei vielen der Protest gegen konkrete Maßnahmen oder Entscheidungen. Aber spätestens bei Veranstaltungen wie in Berlin, Cottbus oder Magdeburg werden sie mit populistischer Rhetorik, gefestigter Ideologie und der Ablehnung der demokratischen Grundordnung konfrontiert.
Im Laufe des Sommers 2022 haben sich bei den verschwörungsideologischen Protesten immer offener Schnittmengen zu Akteuren der klassischen Friedensbewegung oder den „Mahnwachen für den Frieden“ gezeigt. Einst federführende Initiativen wie „Querdenken“ haben im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren und spielen in den meisten Städten keine Rolle mehr. Dafür sind Akteure wie die „Freien Sachsen“ wichtiger geworden – genauso wie szeneintern etablierte „Alternativmedien“ wie Auf1. Sie sind auch auf Demonstrationen präsent. Als Gegenpart zu den etablierten Medien hat sich ein breites Netzwerk von „Alternativmedien“ gebildet, das pro-russische Desinformationskampagnen befeuert und die Mobilisierung zu verschwörungsideologischen Demonstrationen und Kundgebungen unterstützt.
Anders als noch 2020 finden mittlerweile jedoch kaum noch deutschlandweite Großdemonstrationen statt. Unserer Einschätzung nach liegt das nicht zuletzt auch an internen Zerwürfnissen und unterschiedlichen Strategieentwürfen.
Sie haben die „Alternativmedien“ schon erwähnt. Auch sie nähern sich den aktuellen Krisen mithilfe von Verschwörungsideologien und Feindbildern an. Vor dem Hintergrund der Coronamaßnahmen wird dort von einem „Corona-Régime“ geschrieben oder einem von einer kleinen Elite geplanten globalen „Great Reset“. Oft geht es um die angeblichen Profiteure der Krisen: die „Pharma-“ oder „Kriegslobby“ oder bekannte Personen wie George Soros. Was davon begegnet Ihnen auf der Straße?
Diese Codes und Chiffren beobachten wir auf Demonstrationen seit fast drei Jahren, sei es in Reden, auf Plakaten oder bei Parolen. Sie lassen sich in den meisten Fällen auf verschiedene Themen und Krisen übertragen. In der Regel handelt es sich um antisemitische Inhalte, die bei Außenstehenden unmittelbare Assoziationen schaffen sollen und mit einer konkreten Feindbildkonstruktion und Sündenbockmetaphorik einhergehen.
Und warum sind sie gefährlich?
Die Gefahr, die von solchen Erzählungen ausgeht, ist eine Personalisierung von Verantwortung für komplexe und oft schwer greifbare Krisenerscheinungen. Dieser Personalisierung liegt eine Komplexitätsreduzierung zugrunde, die auf persönliche als auch auf gesamtgesellschaftliche Krisen übertragen werden kann. Damit einhergeht ein dichotomes Weltbild. Das heißt, die Welt wird nur noch in Gut und Böse eingeteilt und es entstehen ganz konkrete Feindbilder.
Außerdem sind Verschwörungserzählungen meist auch antisemitisch. Zurückgegriffen wird dabei auf jahrhundertealte antisemitische Erzählungen. Dazu gehören bekannte Motive des Juden als Gottesmörder, als Brunnenvergifter, als Kindermörder oder als Wucherer – diese werden auf aktuelle Ereignisse und gleichzeitig auf konkrete Personen übertragen“
Außerdem sind Verschwörungserzählungen meist auch antisemitisch. Zurückgegriffen wird dabei auf jahrhundertealte antisemitische Erzählungen. Dazu gehören bekannte Motive des Juden als Gottesmörder, als Brunnenvergifter, als Kindermörder oder als Wucherer – diese werden auf aktuelle Ereignisse und gleichzeitig auf konkrete Personen übertragen. Immer wieder wendet sich die Wut oder der Hass der Beteiligten folglich auf Jüdinnen:Juden oder auf als jüdisch wahrgenommene Personen, die als mächtig oder einflussreich betrachtet werden. In der Konsequenz ist das eine reale Bedrohung und Gefahr.
Manche „Alternativmedien“ sehen sich als Teil der Protestbewegung. Sie mobilisieren für die Demonstrationen, verkaufen Demo-Merchandise oder sind selbst vor Ort. Wie sind diese Medien auf der Straße aktiv?
Am präsentesten sind das Mobilisierungsblatt Demokratischer Widerstand, der österreichische Verschwörungssender Auf1.TV und das rechtsextreme Magazin Compact. Sie sind Teil eines großen Mediennetzwerks, dessen Beteiligte sich gegenseitig ergänzen und unterstützen. Erst vor einigen Monaten zum Beispiel wechselte der bisherige TV-Chef des Compact Magazin, Martin Müller-Mertens, als Berlin-Korrespondent zu Auf1. Die verbreiteten Inhalte sind oft deckungsgleich und adressieren, wenn überhaupt, eine unterschiedliche Zielgruppe.
Auf1 ist es im letzten Jahr gelungen, sich quasi als Aushängeschild der „Alternativmedien“ vor Ort in Stellung zu bringen. Kein Sender ist so präsent auf Demonstrationen – sei es mit Stickern, Plakaten, Autos oder Luftballons. So wird versucht, eine breite Zielgruppe anzusprechen und seriös zu wirken.“
Auf1 ist es im letzten Jahr gelungen, sich quasi als Aushängeschild der „Alternativmedien“ vor Ort in Stellung zu bringen. Kein Sender ist so präsent auf Demonstrationen – sei es mit Stickern, Plakaten, Autos oder Luftballons. So wird versucht, eine breite Zielgruppe anzusprechen und seriös zu wirken. Auch Compact und Demokratischer Widerstand tauchen immer wieder bei verschwörungsideologischen Protesten auf, letztere vor allem in Berlin. Auch die Chefredakteure Jürgen Elsässer, Hendrik Sodenkamp oder Anselm Lenz sind häufig auf den Veranstaltungen und treten als Redner auf. Elsässer etwa sprach am 5. September in Leipzig auf einer Demonstration der “Freien Sachen”; Lenz und Sodenkamp organisierten 2020 die sogenannten „Hygienedemos“. Während man also den etablierten Medien mangelnde Neutralität vorwirft, tritt man selbst als aktiver Bestandteil der Proteste auf.
Wie schätzen Sie die Bedeutung dieser „Alternativmedien“ im Kontext der Protestbewegung ein?
Einerseits sind sie maßgebliche Verbreiter von Desinformationskampagnen und andererseits beteiligen sie sich aktiv an der Begleitung der Proteste. Das umfasst sowohl die Mobilisierung als auch die oft irreführende und falsche Berichterstattung über die Veranstaltungen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V.
Das JFDA ist ein gemeinnütziger Verein, der sich dem Kampf gegen Antisemitismus und alle anderen Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit verschrieben hat. Feldbeobachtungen etwa auf Demonstrationen, Online- und Offline-Monitoring aktueller antisemitischer Ereignisse sowie wissenschaftliche Recherchen dienen als Grundlage tiefgreifender Analysen zu demokratiefeindlichen Entwicklungen und Tendenzen. Außerdem betätigt sich das JFDA in der politischen Bildungsarbeit
Interview: Sonja Vogel