‌„Abschal­ten würde dazu führen, dass die Com­mu­nity woan­ders hin­wan­dert“ – Inter­view mit Jea­nette Hofmann

Eine Person hält ein Handy mit dem geöffneten Messanger-Dienst Telegram in der Hand.
Foto: Shut­ter­stock

Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Jea­nette Hofmann forscht zu Demo­kra­tie und Digi­ta­li­sie­rung. Im Inter­view mit Anne Fromm spricht sie über den Mess­an­ger­dienst Tele­gram, die Ent­wick­lung des digi­ta­len Raums hin zu geschlos­se­nen Öffent­lich­kei­ten – und wie man dieser pro­ble­ma­ti­schen Tendenz begeg­nen kann

Frau Hofmann, was unter­schei­det Tele­gram von anderen Mes­sen­gern wie Whats­App oder Signal?

Jea­nette Hofmann: Rein tech­nisch unter­schei­den sich die Mes­sen­ger kaum von­ein­an­der. Natür­lich, die Anmu­tung, das Inter­face, das sieht bei jeder App anders aus. Aber die größten Unter­schiede liegen im Regu­la­to­ri­schen, also in der Frage, ob die Betrei­ber beschrän­ken, was und wie die Mit­glie­der unter­ein­an­der kommunizieren.

Welche regu­la­to­ri­schen Unter­schiede sind das?

Hofmann: Bei Whats­App war es bei­spiels­weise lange möglich, belie­big viele Nach­rich­ten an belie­big große Gruppen von Empfänger:innen zu senden. In Bra­si­lien, wo sich sehr viele Men­schen über Whats­App infor­mie­ren, soll diese Funk­tion dem rechten Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten Jair Bol­so­n­aro ins Amt gehol­fen haben. Im Wahl­kampf hatten sich Falsch­mel­dun­gen und Lügen sehr schnell über Whats­App ver­brei­tet, Bol­so­n­aro-Anhän­ger sollen sie orches­triert ver­schickt haben. Bra­si­lia­ni­sche Medien schrie­ben damals über den ersten „Whats­App-Wahl­kampf“. Face­book hat anschlie­ßend die Regeln für die Nutzung von Whats­App so ver­än­dert, dass es auf­wän­di­ger gewor­den ist, mas­sen­haft Nach­rich­ten an große Gruppen zu versenden.

Damit hat Face­book darauf reagiert, dass sein Mes­sen­ger-Dienst massiv poli­ti­sche Pro­zesse beein­flusst hat. In Deutsch­land geht es zurzeit vor allem um Tele­gram, das sich zum Sam­mel­be­cken für Antidemokrat:innen, Verschwörungstheoretiker:innen und Rechte ent­wi­ckelt. Was macht Tele­gram so attrak­tiv für sie?

Hofmann: Tele­gram ist im Ver­gleich zu den anderen Mes­sen­gern beson­ders wenig regu­liert. Der Betrei­ber greift kaum in die Kom­mu­ni­ka­tion ein.

Mit dem Inter­net hatte die öffent­li­che Kom­mu­ni­ka­tion erst einmal gewon­nen. Aber seit etwa 2010 beob­ach­ten wir, dass sich neue Formen von geschlos­se­nen Öffent­lich­kei­ten herausbilden.“ 

Und das ist ein Problem?

Hofmann: Es kann zu einem werden. Die Mes­sen­ger­dienste sind Hybride zwi­schen öffent­li­chen, pri­va­ten und semi-öffent­li­chen Räumen. Einer­seits sind es private Räume, die nur für die jewei­li­gen Mit­glie­der einer Gruppe ein­seh­bar sind. Ande­rer­seits sind manche Gruppen so groß, dass man von Semi-Öffent­lich­kei­ten spre­chen kann. Dieses fle­xi­ble Dasein zwi­schen pri­va­ter Stamm­tisch-Atmo­sphäre und öffent­li­chem Raum bei einer belie­bi­gen Wachs­tums­kurve, auch das unter­schei­det die Dienste von frü­he­ren Formen der poli­ti­schen Kom­mu­ni­ka­tion. Mit dem Inter­net hatte die öffent­li­che Kom­mu­ni­ka­tion ja erst einmal gewon­nen, weil sich immer mehr Men­schen mit eigenen Bei­trä­gen daran betei­li­gen konnten. Aber seit etwa 2010 beob­ach­ten wir, dass sich neue Formen von geschlos­se­nen Öffent­lich­kei­ten herausbilden.

Was meinen sie mit geschlos­se­nen Öffentlichkeiten?

Hofmann: Nehmen wir noch einmal Bra­si­lien: Ich war erstaunt, welche Rolle dort große Whats­App-Gruppen gespielt haben. Sie waren nicht nur für den Wahl­kampf wichtig, sondern auch für andere, gesell­schaft­lich durch­aus wün­schens­werte Zwecke. Dort fanden poli­ti­sche Dis­kus­sio­nen statt und Web­i­nare, bei denen NGOs ihre Ziel­grup­pen erreicht haben. Das hat mir gezeigt, dass Chat-Gruppen in vielen Ländern viel stärker für poli­ti­sche Dis­kus­sio­nen genutzt werden als in Deutschland.

Das heißt, demo­kra­tisch gesehen, sind Mes­sen­ger ein Gewinn?

Hofmann: Nur bedingt, denn unter einer demo­kra­ti­schen Per­spek­tive sind sie auch pro­ble­ma­tisch. Demo­kra­tien pro­fi­tie­ren von der unge­hin­der­ten Dis­kus­sion in der Öffent­lich­keit: jede:r kann teil­neh­men, niemand wird aus­ge­schlos­sen. Das ist ein wesent­li­ches Merkmal von demo­kra­ti­scher Öffent­lich­keit. Mit den Mess­an­ger­diens­ten erleben wir eine starke Aus­dif­fe­ren­zie­rung und zudem geschlos­sene Öffent­lich­kei­ten, die Mit­glie­dern vor­be­hal­ten sind. Damit ent­steht die Mög­lich­keit von abge­schot­te­ten Räumen für Gleich­ge­sinnte, die kri­ti­sche Stimmen sys­te­ma­tisch ausschließen.

Das ist das Dilemma, in dem wir bei aller Bekämp­fung von extre­mis­ti­schen Kräften stecken. Wir berau­ben uns mög­li­cher­weise dem, worauf die Demo­kra­tie beruht: Frei­heit und Schutz­räume, für die, die Mei­nun­gen ver­tre­ten, von denen sie fürch­ten müssen, dass ihnen daraus Nach­teile erwachsen.“ 

Diese geschlos­sene Öffent­lich­keit wird auch dann zum Problem, wenn dort Lügen, Hass und Hetze unge­bremst zir­ku­lie­ren. Bei Tele­gram ist das der Fall. Wie kann man dem Einhalt gebieten?

Hofmann: Ange­sichts der ver­ba­len Gewalt und den Gewalt­an­dro­hun­gen, die dort zir­ku­lie­ren, wird eine stär­kere Rechts­durch­set­zung not­wen­dig. Einfach ist das nicht, weil der Schutz der Anony­mi­tät in digi­ta­len Räumen gene­rell ein sehr hohes Gut ist. Man muss sich bei jedem Mittel, das staat­li­che Macht stärkt, über­le­gen, wofür diese Macht genutzt werden könnte, wenn sie in falsche Hände gerät. Was wird daraus, etwa wenn wir eine rechte Regie­rung bekom­men? Oder was fangen anti­de­mo­kra­ti­sche Kräfte inner­halb der Poli­zei­be­hör­den damit an? Das ist das Dilemma, in dem wir bei aller Bekämp­fung von extre­mis­ti­schen Kräften stecken. Wir berau­ben uns mög­li­cher­weise dem, worauf die Demo­kra­tie beruht: Frei­heit und Schutz­räume, für die, die Mei­nun­gen ver­tre­ten, von denen sie fürch­ten müssen, dass ihnen daraus Nach­teile erwachsen.

Sie fordern, dass mehr Polizist:innen und Verfassungsschützer:innen bei Tele­gram mitlesen?

Hofmann: Das tun sie ja schon, und seit der ver­gan­ge­nen Woche offen­bar mit noch mehr Per­so­nal. Ich fordere also nichts, was es nicht schon gibt.

Ande­rer­seits waren es Jour­na­lis­ten, die die Mord­pläne gegen den säch­si­schen Minis­ter­prä­si­den­ten Michael Kret­schmer öffent­lich gemacht haben, nicht die Polizei.

Hofmann: Poli­zei­be­hör­den haben aber auch weniger ein Inter­esse daran, solche Erkennt­nisse öffent­lich kund­zu­tun. Die Frage ist, ob die Poli­zei­be­hör­den nicht längst davon wussten.

Es reicht nicht, dass die Sicher­heits­be­hör­den auf der Platt­form präsent sind, es braucht auch eine kon­se­quente Strafverfolgung.“ 

Aber die Haus­durch­su­chung bei denen, die Anschläge auf den Minis­ter­prä­si­den­ten geplant haben, gab es erst nach der Berichterstattung.

Hofmann: Das stimmt. Aber in Sachsen haben wir ja sowieso das Problem, dass man die dortige Polizei oft zum Jagen tragen muss. Es reicht nicht, dass die Sicher­heits­be­hör­den auf der Platt­form präsent sind, es braucht auch eine kon­se­quente Strafverfolgung.

Das Problem war ja bisher offen­bar auch, dass Tele­gram für deut­sche Sicher­heits­be­hör­den nicht zu errei­chen ist. Das BKA hat mehr­fach Buß­geld­be­scheide nach Dubai geschickt, wo der Betrei­ber von Tele­gram gemel­det ist. Diese Post blieb wohl unbeantwortet. 

Hofmann: Für diesen Fall haben wir in Deutsch­land gel­tende Rechts­vor­schrif­ten. Das Netz­werk­durch­set­zungs­ge­setz sieht bei­spiels­weise vor, dass ein Kom­mu­ni­ka­ti­ons­dienst, der in Deutsch­land ange­bo­ten wird, hier auch ab einer gewis­sen Mit­glie­der­größe einen Brief­kas­ten haben muss, um Post von Behör­den zu emp­fan­gen. Wenn das nicht gegeben ist, könnte das auf eine Beschrän­kung des Diens­tes hinauslaufen.

Ein Abschal­ten oder Blo­ckie­ren von Tele­gram würde nur dazu führen, dass die Com­mu­nity woan­ders hinwandert.“ 

Tele­gram abzu­schal­ten hat zwi­schen­zeit­lich auch die Innen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser gefor­dert, mitt­ler­weile ist sie zurück­ge­ru­dert. Sie fänden das eine gute Lösung?

Hofmann: Ganz und gar nicht. Ich halte nichts davon, Tele­gram abzu­schal­ten, weil der Dienst von so vielen rechten Kräften genutzt wird. Ein Abschal­ten oder Blo­ckie­ren von Tele­gram würde nur dazu führen, dass die Com­mu­nity woan­ders hin­wan­dert. Selbst wenn dabei nicht alle mit­ge­hen, sammelt sich dann eben ein noch radi­ka­le­rer Kern bei einem anderen Dienst. Alle Studien zeigen: Digi­tale Medien werden Teil der eigenen Iden­ti­tät. Wer da mit­macht, der iden­ti­fi­ziert sich nicht nur mit einem poli­ti­schen Pro­gramm, sondern er iden­ti­fi­ziert sich auch mit dieser Gruppe und diesem Medium. Das kann man nicht einfach zer­stö­ren, ohne nicht etwas Neues in Gang zu setzen.

Was halten sie von der For­de­rung, Google und Apple stärker in die Pflicht zu nehmen? Wenn die beiden Tele­gram aus ihren App Stores ent­fer­nen würden, dürften die Nutzer:innenzahlen stark zurückgehen.

Hofmann: Das hielte ich für eine pro­ble­ma­ti­sche Koope­ra­tion zwi­schen pri­va­ten Anbie­tern und staat­li­cher Rechts­durch­set­zung. Natür­lich bilden Google und Apple ein wich­ti­ges Nadel­öhr, aber der Ein­fluss von wenigen Unter­neh­men auf die Ent­wick­lung des öffent­li­chen Raums wird derzeit zurecht viel kri­ti­siert. Die Indienst­nahme pri­va­ter Macht für die Rechts­durch­set­zung ver­grö­ßert dieses Problem ja sogar noch. Abge­se­hen davon würde dieser Schritt das Problem nur bedingt lösen, denn Tele­gram selbst bliebe ja wei­ter­hin erreichbar.

Reichen die gesetz­li­chen Grund­la­gen in Deutsch­land, um Tele­gram ein­zu­schrän­ken? Es war lange unklar, ob das Netz­werk­durch­set­zungs­ge­setz für Tele­gram über­haupt gilt.

Hofmann: Ich bin immer skep­tisch, wenn es um die Aus­deh­nung von Geset­zen geht. Das Problem ist eher, dass wir mit dem Netz-DG die pri­va­ten Platt­form­be­trei­ber so stark in die Rechts­durch­set­zung ein­ge­bun­den haben. Sie sind ja inzwi­schen ver­pflich­tet, straf­bare Inhalte selbst zu melden. Weil die Fristen dafür aber so kurz sind, müssen die Betrei­ber sehr schnell ent­schei­den, wie ein poten­zi­el­ler Rechts­bruch zu bewer­ten ist. Solche Ent­schei­dung sollten aber Gerich­ten vor­be­hal­ten sein. Für diese Abhän­gig­keit der öffent­li­chen Behör­den von pri­va­ten Anbie­tern gibt es derzeit noch keine guten Lösungen.

Wichtig für den demo­kra­ti­schen Diskurs ist, dass es gemein­same Bezugs­punkte gibt. Eine öffent­li­che Wil­lens­bil­dung lebt davon, dass die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­dien einen Aus­tausch zwi­schen den Bürger:innen ermöglichen.“ 

Immer­hin hat das Netz-DG auch dazu geführt, dass einige Platt­form­be­trei­ber selbst aktiv werden. Youtube bei­spiels­weise löscht Fake-News übers Impfen.

Hofmann: Aber auch Youtube und andere Platt­for­men gehen immer noch viel zu wenig gegen Falsch­in­for­ma­tio­nen, Ver­schwö­run­gen und Hate Speech vor. Sie bleiben ihrem zen­tra­len Inter­es­sens­kon­flikt ver­haf­tet: Einer­seits ist es für Youtube wichtig, dass etwa die Anzei­gen von Werbekund:innen nicht ver­se­hent­lich auf Seiten landen, auf denen sie nicht landen wollen. Auf der anderen Seite wollen sie aber auch den Kreis ihrer Nutzer:innen nicht beschrän­ken und an die Kon­kur­renz ver­lie­ren. Das sieht man aktuell zum Bei­spiel an dem Deal, den Spotify mit dem Impf­geg­ner Joe Rogan abge­schlos­sen hat.

Neil Young und Joni Mit­chell haben aus Protest gegen diesen Deal ihre Musik von Spotify zurückgezogen.

Hofmann: Genau. Für uns als Nutzer:innen gilt das doch auch: Wenn es eine gute Alter­na­tive zu Spotify gäbe, wäre ich noch heute weg von diesem Dienst.

Wieviel bringt es, wenn Nutzer:innen indi­vi­du­ell ent­schei­den, einen Dienst zu boykottieren?

Hofmann: Diese Abstim­mung mit den Füßen findet ja eigent­lich immer statt. Gerade die junge Gene­ra­tion zieht von einem Dienst zum nächs­ten, vor allem immer dahin, wo ihre Eltern nicht sind. Bei den Chat­diens­ten macht es kaum einen Unter­schied, welchen man nutzt, weil sie sich in ihrer Funk­tio­na­li­tät so ähneln. Man ver­liert nichts, wenn man einen Dienst aufgibt, höchs­tens die Kon­takte. Die findet man aber meist woan­ders wieder, die meisten Men­schen nutzen sowieso mehrere Mes­sen­ger par­al­lel. Das ist schon etwas anderes bei Face­book und Twitter, deren Funk­tio­nen viel spe­zi­fi­scher sind.

In der Pan­de­mie ist immer wieder die Rede von der „Spal­tung der Gesell­schaft“, die durch die digi­ta­len Medien, Face­book und Tele­gram vor­an­ge­trie­ben wird. Sehen sie diese Gefahr auch?

Hofmann: Wichtig für den demo­kra­ti­schen Diskurs ist, dass es gemein­same Bezugs­punkte gibt. Eine öffent­li­che Wil­lens­bil­dung lebt davon, dass die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­dien einen Aus­tausch zwi­schen den Bürger:innen ermög­li­chen. Gerade die Pan­de­mie hat doch gezeigt, dass trotz der vielen ver­schie­de­nen Medien ein kol­lek­ti­ver Fokus auf das Wesent­li­che immer noch möglich ist. Inso­fern betone ich lieber auch, was wir gewon­nen haben durch die digi­ta­len Platt­for­men und Chat­dienste. Wir können heute auf ganz andere Art und Weise mit der Welt kom­mu­ni­zie­ren, als wir das vorher konnten.

 


Prof. Dr. Jea­nette Hofmann ist Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin und leitet am Wis­sen­schafts­zen­trum Berlin für Sozi­al­for­schung die For­schungs­gruppe „Politik der Digi­ta­li­sie­rung“. Sie ist Grün­dungs­di­rek­to­rin des Alex­an­der von Hum­boldt Insti­tuts für Inter­net und Gesell­schaft und Pro­fes­so­rin für Inter­net­po­li­tik an der FU Berlin. Am Wei­zen­baum-Insti­tut leitet sie als Prin­ci­pal Inves­ti­ga­tor zwei For­schungs­grup­pen zu den Themen Demo­kra­tie und Digi­ta­li­sie­rung und Quan­ti­fi­zie­rung und gesell­schaft­li­che Regu­lie­rung. Sie ist Mit­glied der Wis­sen­schaft­li­chen Kom­mis­sion Digi­ta­li­sierte Gesell­schaft der Leo­pol­dina. Von 2010 bis 2013 war sie Sach­ver­stän­dige in der Enquete-Kom­mis­sion Inter­net und digi­tale Gesell­schaft des Deut­schen Bundestages.

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