„Ein Armdrücken mit der Macht des Staates“ – Interview mit David Begrich
Rechtsextremismusforscher David Begrich über die Coronaproteste in ostdeutschen Städten, das Nachwirken einer rechten Jugendkultur und was die Demonstrationen von denen im Westen Deutschlands unterscheidet. Das Interview führte Sonja Vogel
Herr Begrich, Sie beobachten schon lange Demonstrationen von Corona-Leugner:innen und Rechten im Osten Deutschlands. Was hat sich da in den vergangenen Monaten entwickelt?
Begrich: Das Protestformat von Querdenken hat seinen Ursprung eigentlich in Südwestdeutschland, im Raum Stuttgart, und hat anfangs stark auf zentrale Proteste gesetzt – es wurde nach Stuttgart oder Berlin mobilisiert. Es gab zahlreiche Aufrufe, den Bundestag zu belagern, das war nicht immer erfolgreich. Die zweite Protestphase begann im Oktober und ist eher dezentral. Der Schwerpunkt der Mobilisierung hat sich in die Regionen verlagert und auch die Akteure haben gewechselt.
Wer sind die Akteure und wie haben sich die Proteste durch diese Dezentralisierung verändert?
Begrich: Im Mittelpunkt steht nicht mehr das in Teilen linksalternative Milieu Westdeutschlands. Der Schwerpunkt der Mobilisierung liegt jetzt in Sachsen und dort gehen andere Leute auf die Straße. Das Protestgeschehen hat sich noch einmal deutlich diversifiziert. Die Coronaproteste sind ein Plattformprotest: Die Plattform wird von unterschiedlichen Leuten zur Verfügung gestellt und von verschiedenen politischen Akteuren genutzt. Sie kommen aus der extremen Rechten und wissen, wie man Proteste organisiert. Zu beobachten ist auch eine Radikalisierung, die einhergeht mit einer inhaltlichen Verschiebung weg vom Thema Corona-Maßnahmen und Impfkritik und hin zu einer politischen Agenda: Corona-Maßnahmen und Impfpflicht stehen da für ein übergriffiges politisches System, das es zu beseitigen gelte.
Es geht also nicht um Corona oder Kritik an politischen Entscheidungen, sondern ums Ganze, um einen Umsturz?
Begrich: Genau. Die Akteursgruppe, die das vorbringt ist ideengeschichtlich aber auch was den ideologischen Hintergrund betrifft sehr divers. Da fließen Reichsbürger-Ideologie, Verschwörungsnarrative, esoterische oder rechtsextreme Elemente ineinander. Habituell passen die, die da gemeinsam auf die Straße gehen, auf den ersten Blick nicht zusammen. Denken Sie an die Demonstration mit bis zu 25.000 Menschen am 7. November 2020 in Leipzig. Vorne liefen rechtsextreme Hooligans, die haben die Demonstration auf dem Leipziger Ring gegen die Polizei auch mit Gewalt durchgesetzt. Dahinter dann Menschen, die man eher der Ökologiebewegung zuordnen kann, der anthroposophischen, esoterischen oder Heilpraktiker-Szene.
Das eine sind die sehr unterschiedlichen Milieus, aber das andere Inhalte und Themen. Was bringt diese unterschiedlichen Leute zusammen auf der Straße – gemeinsame Weltbilder, Ideologien, Feindbilder?
Begrich: Ideologisch gibt es zwischen diesen Milieus durchaus Anschlussstellen. Versatzstücke von Verschwörungsnarrativen zum Beispiel, Elemente des Antisemitismus, ein tief verwurzeltes Anti-Establishment-Ressentiment verbindet diese Leute. Es heißt: Wir hier unten müssen gemeinsam gegen die da oben aufstehen. Bereits vorhanden politisch-ideologische aber auch lebensweltliche Schnittmengen werden nun unter einer themenzentrierten Gesellschaftsanalyse zusammengefasst. Die Corona-Krise ist letztlich nur ein Medium für eine ganz andere Erzählung – dass es keine Demokratie gebe, sondern eine Elite in Deutschland oder weltweit an der Errichtung einer Diktatur arbeite. Dieses Diktaturnarrativ ist extrem wichtig für die Mobilisierung.
Was folgt aus der Behauptung, wir lebten in einer Diktatur?
Begrich: Das Diktaturnarrativ ist die Voraussetzung für das Widerstandnarrativ. Wenn ich mit einer politischen Entscheidung der Regierung nicht einverstanden bin, dann protestiere ich. Wenn ich in einer Diktatur lebe, ist Widerstand das Mittel. Auf Veranstaltungen ist immer wieder zu hören, die Corona-Eindämmungsmaßnahmen seien Kennzeichen einer Diktatur, um dann im nächsten Schritt zum Widerstand dagegen aufzurufen. Der Unterschied zwischen einem Protest, um einen konkreten Sachverhalt zu ändern, und Widerstand mit dem Ziel eines Systemumsturzes ist kein rhetorischer, sondern ein Unterschied ums Ganze.
Der Verweis auf 1989, als schon einmal ein System gestürzt worden sei, taucht auf Demonstrationen häufig auf. Gibt es etwas spezifisch Ostdeutsche an diesen Protesten?
Begrich: Da wird eine bestimmte kollektive Erinnerung der Menschen in den neuen Bundesländern bedient. Dass die Straße das Mittel der Wahl ist, hat zum Beispiel mit den Ereignissen 1989 zu tun. Das ist ein zentraler Bezugspunkt des Protestgeschehens. Nach dem Motto „Wir hier unten gehen so lange auf die Straße bis die da oben machen, was wir wollen“. Hier schließen dann die ständigen strategischen Parallelisierungen mit der Endphase der DDR 1988/89 an.
Hat, wer auf die Macht der Straße setzt, sich von den politischen Institutionen abgewandt?
Begrich: Hier zeigt sich eine Distanz zur repräsentativen Demokratie. Das beobachten wir in Ostdeutschland seit 30 Jahren. Es gib hier andere Strukturen bei der Mitgliedschaft von Parteien oder Vereinen, als das im Westen der Fall ist. Der Politikbetrieb zum Beispiel wird in vielen Regionen als westdeutsch dominiert wahrgenommen, ein Ort, an dem ostdeutsche Erfahrungen keine Berücksichtigung fänden. Entscheidend ist, wie diese Erfahrungswelten erfolgreich politisch in Dienst genommen werden.
Und wie werden diese ostdeutschen Erfahrungen im Umfeld der Corona-Demonstrationen aufgegriffen?
Begrich: Da gibt es einerseits die AfD, die sich als Transmissionsriemen der Protestbewegung zwischen Straße und Parlament versteht, einem Teil der Bewegung aber schon als neuste der Altparteien gilt. Und dann gibt es ein anderes Phänomen: die „Freien Sachsen“, ein Zusammenschluss von rechtsextremen Gruppen vor allem aus Sachsen. Die sind nicht bloß eine rechtsextreme Kleinstpartei, sondern bündeln ganz unterschiedliche Motive kollektiver und kulturelle Erinnerungsräume in einer strategischen Kommunikation. Das darf man nicht unterschätzen. Eine Erzählung ist in diesem Zusammenhang besonders stark: „Der Sachse ist helle“. Das heißt, er ist kein „Schlafschaf“, lässt sich weder aus Berlin noch Dresden etwas vorschreiben. Solche Selbstermächtigungsnarrative finden sich bei den „Freien Sachsen“ in radikalisierter Form, sind aber kulturell breit anschlussfähig.
Man kann den Eindruck bekommen, dass es in Ostdeutschland derzeit keine Hemmungen gibt, mit Neonazis auf die Straße zu gehen, dafür aber, gegen unangemeldete oder gewaltsame Proteste vorzugehen. Täuscht das?
Begrich: Wir diskutieren darüber, ob Teile Sachsens unregierbar sind. Teile der Kommunalpolitik haben aus einem missverstandenen Pragmatismus an die Protestbewegung kommuniziert: Wir vertreten eure Interessen; Wir setzen Richtlinien wie die einrichtungsbezogene Impfpflicht nicht um. Eine gesellschaftliche Interessensgruppe – das formuliere ich mal relativ neutral – ist zu einer politischen Kommunikation fähig, die Teile der Regionalpolitik zum Nachgeben zwingt. Übersetzen Sie das mal ins Faktische: Eine Akteursgruppe zwingt die Regionalverwaltung, Gesetze nicht umzusetzen. Was bedeutet das?
Eine Kapitulation der Politik?
Begrich: Ein Zurückweichen. Ich denke aber, dass diese Entwicklung nicht aus dem Nichts kommt. Vor allem im Umgang mit Rechtsextremismus. Wir haben Ähnliches bereits seit 2013 beobachtet, oder bei der Debatte um die Unterbringung von Geflüchteten 2015: eine gesellschaftliche Akteursgruppe ist in der Lage, einen Teil der Politik zu Willen zu zwingen und damit bestimmte institutionelle Mechanismen temporär außer Kraft zu setzen.
Woher kommt diese Macht? Auf die Straße geht doch nur eine Minderheit…
Begrich: Ja, aber kulturelle Hegemonie und politisches Agenda-Setting sind nicht an Mehrheiten gebunden, sondern an die strategische Kommunikationsfähigkeit politischer Akteure. Da geht es um Meinungsführerschaft. Wenn in einer Stadt mit 30.000 Einwohnern wöchentlich 1.000, 2.000 Leute mobilisiert werden, haben die die Meinungsführerschaft. Wer ihnen widersprechen will, muss erstmal seine eigne Sprache finden, und einen Resonanzraum finden. Das ist sehr schwierig. In Metropolen zum Beispiel kann man dieser Auseinandersetzung aus dem Weg gehen, sich ins eigene Umfeld zurückziehen, in den kleinen ostdeutschen Städten ist das nicht möglich. Auch diese Beobachtung ist nicht neu. Seit den 90er Jahren beschreiben wir, wie diese Meinungsführerschaft von rechtsextremen Gruppen durch sozialräumliche Präsenz funktioniert.
Heißt das, das zögerliche bzw. Nichtagieren von Politik und Polizei in den 90er Jahre war eine Ermunterung der rechten Szene, die bis heute nachwirkt?
Begrich: Um zu verstehen, was derzeit in Sachsen passiert, hilft es, nach Zwönitz zu schauen. Im Mai letzten Jahres sah man da eine Polizei im Rückwärtsgang. Wir haben es mit Protestierenden zu tun, die offensichtlich gegen zahlreiche Auflagen verstoßen – und die Polizei weicht zurück. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht für den Einsatz von Wasserwerfern und die Versammlungsfreiheit muss selbstverständlich auch für Querdenken-Demonstrationen gewährleistet sein. Es bleibt aber die Frage nach einer Grenzsetzung bei den zahllosen unangemeldeten, teilweise gewalttätigen Protesten. Dieses Zurückweichen kennen wir in Bezug auf die Frage, was Neonazis tun oder lassen können oder beim Umgang mit Migranten und Geflüchteten. Und das erleben wir jetzt in gewisser Weise wieder bei der Frage nach einer Durchsetzungsbereitschaft der Impfpflicht. Und ich sage voraus: Sie wird nicht durchgesetzt werden.
Sie halten die Impfpflicht im Osten Deutschlands für nicht durchsetzbar?
Begrich: Es wird Regionen geben, in denen es schwierig wird. Auch im Westen Deutschlands.
Woher kommt diese weit zurückreichende rechte Hegemonie und der Mangel an Gegenwehr?
Begrich: Ein messbarer Faktor ist die Abwanderung vor allem aus kleinen und mittleren Städten. Ein anderer Faktor sind jene, die dort geblieben sind und ihre realen Handlungsmöglichkeiten. Dazu kommen die Nachwirkungen einer rechtsextremen Jugendbewegung aus den 90er Jahren. Diejenigen, die eine primäre politische Sozialisation im Umfeld einer rechtsextremen Jugendkultur erlebt haben, sind heute Mitte 40 – und wieder auf der Straße. Sie sind nicht für alles mobilisierbar, aber, wenn sie denken, es gehe um etwas Wichtiges, darum, etwas gegen den Staat durchzusetzen. Man kann das als ein Armdrücken mit der Macht des Staates beschreiben. Und die Leute haben ein feines Gespür dafür, wenn die Bereitschaft von Politik und Exekutive sich durchzusetzen, erlahmt.
Wie geht es mit den Protesten weiter, ist der Zenit überschritten?
Begrich: In manchen Orten geht die Teilnehmerzahl zurück, in anderen steigt sie. Aber wenn die Leute weniger werden, muss die politische Selbstwirksamkeitserfahrung anders erreicht werden. Das ist der Versuch zu den Privathäusern der Minister vorzudringen oder in Gesundheitseinrichtungen. Kurz gesagt: eine nächste Eskalationsstufe wird geschaltet. Und die schließt meiner Einschätzung nach Gewalttaten ein.
David Begrich ist Sozialwissenschaftler und Theologe. Seit vielen Jahren erforscht er Strategien der extremen Rechten in Ostdeutschland und gilt als führender Experte für dieses Thema. Er arbeitet bei Miteinander e.V. in Magdeburg und berät u.a. Organisationen und Politikerinnen zum Umgang mit Rechtsextremismus.