Aus Prinzip dagegen: Über iden­ti­täts­ge­trie­bene Pro­zesse in der Meinungsformierung

Foto: Joerg Farys

Im Inter­view beschreibt der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Holger Marcks, wie poli­ti­sche Hal­tun­gen immer stärker aus der reflex­haf­ten Ableh­nung des Anderen gebil­det werden. Auch für soge­nannte „alter­na­tive Medien“ gehören grund­le­gende Geg­ner­schaft zu eta­blier­ten Medien und Sys­tem­op­po­si­tion zum Selbstverständnis.


Gegen­me­dien: Wenn wir heute über die beson­de­ren Her­aus­for­de­run­gen im digi­ta­len Raum spre­chen, geht es häufig um „Pola­ri­sie­rung“. Du sprichst in diesem Kontext von „iden­ti­täts­ge­trie­be­ner“ Pola­ri­sie­rung und Absto­ßungs­ef­fek­ten. Was ist damit gemeint?

Holger Marcks: Die For­schung zur Online-Radi­ka­li­sie­rung, aber auch zu Pola­ri­sie­rung im digi­ta­len Kontext beschäf­tigt sich oft mit psy­cho­lo­gi­schen Mecha­nis­men der Poli­ti­sie­rung, die in radi­kale oder extreme Posi­tio­nen führen können. Spe­zi­ell im digi­ta­len Kontext stellt sich da vor allem die Frage, wie diese Mecha­nis­men im vir­tu­el­len Umfeld funk­tio­nie­ren, also wie bestimmte Anreize in der Mei­nungs­for­mie­rung durch das tech­ni­sche Design der digi­ta­len Netz­werke beför­dert werden.

Iden­ti­täts­ge­trie­bene Pro­zesse gibt es eigent­lich immer in der Mei­nungs­for­mie­rung – und die gab es auch vor der Digi­ta­li­sie­rung. So etwas wie der con­fir­ma­tion bias – also die Tendenz, Infor­ma­tio­nen zu bevor­zu­gen, die unsere Meinung bestä­ti­gen – hat natür­lich schon immer exis­tiert. Die Frage ist nun, wie sich etwa so ein bias heute im Diskurs aus­wirkt, jetzt, wo wir andere Formen der Inter­ak­tion und eine viel höhere Ver­net­zungs­dichte haben, aber auch die Ver­brei­tung von Infor­ma­tio­nen anders funktioniert.

In Sachen Mei­nungs­for­mie­rung bzw. Dif­fu­sion von Inhal­ten liegt der Fokus häufig auf Reso­nanz­fak­to­ren: Wann fühlen sich die Leute bestimm­ten Posi­tio­nen zuge­neigt? Logisch, dass das viel mit Iden­ti­tät zu tun hat. Mitt­ler­weile geraten aber auch ver­stärkt Absto­ßungs­ef­fekte in den Blick. Hier haben wir es mit dem Gegen­stück der Reso­nanz zu tun, also Reak­tanz, und auch das hat mit Iden­ti­tät zu tun, etwa wenn Men­schen aus Prinzip die Posi­tion einer bestimm­ten Person ableh­nen, weil sie sich über­haupt nicht damit iden­ti­fi­zie­ren können, was diese repräsentiert.

Studien mit einem solchen Fokus bezie­hen sich vor allem auf den US-ame­ri­ka­ni­schen Kontext. Dort beob­ach­tet man ver­mehrt ein Ver­hal­ten, wo dem geg­ne­ri­schen Lager per se abge­spro­chen wird, zu einem Sach­ver­halt etwas Ver­nünf­ti­ges sagen zu können. Auch solche Mecha­nis­men, die zum Bei­spiel unter dem Begriff der nega­tive par­tis­an­ship ver­han­delt werden, gab es selbst­ver­ständ­lich schon vor der Digi­ta­li­sie­rung. Und auch hier ist wieder die Frage, wie sich das im digi­ta­len Kontext einfügt. Es scheint jeden­falls so zu sein, dass in den digi­ta­len Netz­wer­ken mit ihren krei­sen­den Erre­gun­gen, hohen Spon­tan­ak­ti­vi­tä­ten und stän­di­gen Rei­bun­gen solche Absto­ßungs­ef­fekte trei­bend in der Mei­nungs­for­mie­rung sind.

Also geht es immer um das Gegen­teil dessen, was jene sagen, die man nicht mag? 

Es ist nicht so, dass es eine Posi­tion gibt, die ein ver­hass­tes Subjekt ver­tritt – und dann ergibt sich im anderen Lager daraus eine ein­heit­li­che Gegen­po­si­tion. Zunächst einmal sehen wir, dass in bestimm­ten Online-Milieus bestimm­ten Infor­ma­ti­ons­quel­len partout nicht mehr geglaubt wird. In Deutsch­land etwa haben wir Milieus, die sich der Quer­den­ken­szene zuge­hö­rig fühlen oder auch der AfD und für die es eine Frage der Iden­ti­tät gewor­den ist, ins­be­son­dere dem öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk oder bestimm­ten poli­ti­schen Akteu­ren zu wider­spre­chen. Man nimmt also fast schon auto­ma­tisch eine kon­träre Posi­tion zu dem ein, was man als Alteri­tät oder Ali­e­ni­tät emp­fin­det: das, mit dem man sich nicht iden­ti­fi­ziert oder von dem man sich gar ent­frem­det fühlt. Was dann genau die gegen­tei­lige Posi­tion dar­stellt, ist eine andere Diskussion.

Bestimm­ten Akteu­ren nicht mehr zu glauben – würdest Du das schon als Absto­ßungs­ef­fekt beschreiben? 

Es ist die Frage, wie fein­glied­rig man das ana­ly­sie­ren möchte, wo genau der Absto­ßungs­ef­fekt beginnt. Dem gehen ja auch Pro­zesse voraus. Dass die Glaub­wür­dig­keit der öffent­lich-recht­li­chen oder her­kömm­li­chen Medien bei vielen Men­schen unter­spült wurde, mag viel­leicht auf laten­ten Aver­sio­nen auf­bauen, hat aber auch mit poli­ti­schen Nar­ra­ti­ven zu tun, die den Hass auf diese über­haupt erst kon­sti­tu­ie­ren. Es ist also auch ein Resul­tat von dis­kur­si­ven Pro­zes­sen, die ins­be­son­dere in den letzten zehn Jahren mit dem Auf­trieb der sozia­len Medien ermög­licht wurden. Hier ist es vor allem rechts­po­pu­lis­ti­schen und rechts­extre­men Kräften sehr gut gelun­gen, durch Gas­light­ing-Tech­ni­ken das Ver­trauen in bestimmte Medi­en­ak­teure zu untergraben.

Das „Lügenpresse“-Narrativ ist hier­zu­lande ja bekannt, im nord­ame­ri­ka­ni­schen Kontext kennt man das eher unter dem Chiffre MSMmain­stream media. Da ging es rechten Akteu­ren in erster Linie gar nicht darum, selbst ein kon­sis­ten­tes Welt­bild als Alter­na­tive zu ver­brei­ten, sondern viel­mehr darum, diese Quellen in den Köpfen als unglaub­wür­dig, ja als bös­wil­lige Mani­pu­la­to­ren zu ver­an­kern, weil sie poten­ti­ell den eigenen Infor­ma­tio­nen wider­spre­chen. Indem man sie nämlich als posi­tive Refe­renz­sys­teme aus­schal­tet, gelan­gen die Leute eher in die Abhän­gig­keit der eigenen Medienwelt.


Gas­light­ing ist ein Begriff aus der Psy­cho­lo­gie, der in den letzten Jahren im Kontext des post-fak­ti­schen Dis­kur­ses ver­stärkt auch in die Poli­tik­wis­sen­schaft Einzug hielt. Der Begriff kommt eigent­lich von einem Thea­ter­stück, das u.a. in den 1940er Jahren mit Ingrid Berg­mann ver­filmt wurde. Da geht es um einen Ehemann, der seine Frau ständig abspricht, dass sie ihrer eigenen Wahr­neh­mung trauen kann. Konkret beob­ach­tet sie etwa, dass das Licht im Haus öfters fla­ckert, doch er sagt ihr ständig, dass dies nicht der Fall sei, so dass sie irgend­wann ihrer Wahr­neh­mung nicht mehr traut. Sie gerät damit immer mehr in seine Abhän­gig­keit und er kann sie dadurch umso mehr mani­pu­lie­ren. Im über­tra­ge­nen Sinn der Poli­tik­wis­sen­schaft bezeich­net der Begriff den Vorgang, wenn poli­tisch-mani­pu­la­tive Akteure ver­su­chen, die Glaub­wür­dig­keit bestimm­ter Quellen zu unter­mi­nie­ren, damit die Adres­sa­ten der Pro­pa­ganda in die Abhän­gig­keit vom eigenen Infor­ma­ti­ons­sys­tem geraten.


Wie kommt es über­haupt zum con­fir­ma­tion bias, also dazu, dass wir manchen Akteu­ren oder Quellen zuneigen?

Im Detail müsste man da einen Psy­cho­lo­gen her­an­zie­hen. Ich kann mich nur dazu äußern, wie das Konzept in ver­dich­te­ter Form von der Poli­tik­wis­sen­schaft ange­wen­det wird. Da wird das etwa häufig unter dem Gesichts­punkt dis­ku­tiert, wie die Fil­te­rung von Infor­ma­tion der Sta­bi­li­sie­rung poli­ti­scher Iden­ti­tä­ten dient. Eng damit ver­wo­ben ist auch das Konzept der kogni­ti­ven Dis­so­nanz, inso­fern gerade fragile Iden­ti­tä­ten dazu ten­die­ren, wider­spre­chende Infor­ma­tio­nen aus­zu­blen­den oder durch Kon­strukte weg­zu­ra­tio­na­li­sie­ren, die sie als falsch oder ver­nach­läs­sig­bar kon­tex­tua­li­sie­ren. Es gibt da ein ganzes Set von Abwehr­me­cha­nis­men, mit denen eigent­lich wider­sprüch­li­che Welt­bil­der auf­recht­erhal­ten werden können.

Aber das, worüber wir hier reden, geht darüber hinaus. Meine These ist, dass im digi­ta­len Kontext, wo sich auch ant­ago­nis­ti­sche Akteure per­ma­nent in Inter­ak­tion mit­ein­an­der befin­den, die poli­ti­sche Iden­ti­tät viel stärker über die Abgren­zung von den Akteu­ren her­aus­ge­bil­det wird, zu denen eine gewisse Abnei­gung bereits vor­an­ge­legt ist, etwa der kul­tu­rel­len Art. Hier macht sich denn auch die meta­po­li­ti­sche Vor­ar­beit bemerk­bar, die etwa rechts­extreme Akteure im ver­gan­ge­nen Jahr­zehnt geleis­tet haben, mit der sie ein bestimm­tes Niveau an intui­ti­vem Hass in Teilen der Bevöl­ke­rung kul­ti­vie­ren konnten – zum Bei­spiel gegen­über den her­kömm­li­chen Medien. Das war ja im Prinzip eine Grund­lage, auf der dann auch so etwas wie die Quer­den­ker­be­we­gung auf­bauen konnte.

Wie schlägt sich das in den aktu­el­len Debat­ten nieder?

Wir sehen die mei­nungs­for­mie­rende Kraft der Aver­sion deut­lich im Über­gang von der Pan­de­mie zum neuen Groß­thema: dem Ukrai­ne­krieg. Die­je­ni­gen, die vorher den Coro­na­leug­nern zuge­ord­net wurden und sehr anfäl­lig für Ver­schwö­rungs­theo­rien waren, sind im Wesent­li­chen die­sel­ben Akteure wie jene, die jetzt für Ver­schwö­rungs­theo­rien im Kontext des Ukrai­ne­kriegs emp­fäng­lich sind oder rus­si­sche Pro­pa­ganda repro­du­zie­ren. Da haben wir ein sehr starkes Über­lap­pen bei den Netz­wer­ken, aber auch starke Ähn­lich­kei­ten beim sozia­len Typus, der sich dort tummelt. Die poli­ti­sche Psy­cho­lo­gin Pia Lam­berty hat hier tref­fen­der­weise bereits darauf hin­ge­wie­sen, dass die kon­kre­ten Inhalte und Posi­tio­nie­run­gen in diesen Milieus eher sekun­där seien. Es geht nur vor­der­grün­dig um so etwas wie die Impf­pflicht. Hin­ter­grün­dig speist sich die Mei­nungs­for­mie­rung aus einer rebel­li­schen Atti­tüde gegen­über bestimm­ten Gruppen, denen man mit Ver­ach­tung oder Ekel begegnet.

Inso­fern sind die Posi­tio­nen, die hier ein­ge­nom­men werden, auch ein Stück weit aus­tausch­bar; der Wider­spruch zu den geg­ne­ri­schen Nar­ra­ti­ven ist da fast schon Selbst­zweck. Die nar­ra­ti­ven Trends dienen hier als eine Art Ereig­nis, unter denen man sich zusam­men­fin­den und die kol­lek­tive Iden­ti­tät leben kann. Das spie­gelt sich auch in den Inhal­ten dieses Spek­trums wider, das ja wirk­lich ein breites Patch­work von teil­weise wider­sprüch­li­chen Themen und Inhal­ten umfasst, teil­weise gro­tes­ker und absur­der Art, denen viele Anhän­ger selbst nicht wirk­lich glauben. Und trotz­dem ist dieses Spek­trum relativ stabil, weil es eben durch den Kitt der gemein­sa­men Ableh­nung eines geg­ne­ri­schen, ja feind­li­chen Gegen­übers zusam­men­ge­hal­ten wird.

Das ent­spricht auch den Erkennt­nis­sen aus unserer Beob­ach­tung „alter­na­ti­ver Medien“. Da zeigen sich bei aller Ver­schie­den­heit und Wider­sprüch­lich­keit zwei ver­bin­dende Feind­bil­der: die eta­blier­ten Medien und die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen bzw. deren Vertreter. 

Ja, das spie­gelt sich auch in diesen neuen Feind­bil­dern wider, die aus dieser Ecke ver­stärkt kom­mu­ni­ziert werden. Mit der soge­nann­ten Flücht­lings­krise hatten wir ja vor allem das Feind­bild des (mus­li­mi­schen) Flücht­lings boomen gesehen. Aber auch das ging damals schon häufig damit einher, dass Poli­ti­ker ver­stärkt zum Feind­bild wurden, inso­fern sie ja als Ermög­li­cher dieser angeb­li­chen Gefähr­dung gedacht wurden. Das hat sich auch in ent­spre­chen­den Angrif­fen auf Lokal­po­li­ti­ker gezeigt – und ins­be­son­dere in dem Lübcke-Atten­tat. Zuneh­mend ging es dabei auch gegen Jour­na­lis­ten, weil diese jene Gefahr durch Fake News run­ter­spie­len würden – und schließ­lich, mit der Pan­de­mie, dann auch gegen Wis­sen­schaft­ler. Dass mitt­ler­weile ganze Berufs­grup­pen zu Feind­bil­dern erklärt werden, ist defi­ni­tiv eine neue Qua­li­tät, und auch das steht für die Zunahme von poli­tisch auf­ge­la­de­nen Aver­sio­nen, die manche Milieus ent­wi­ckelt haben, oft ver­bun­den mit einer Art Ekel gegen­über bestimm­ten Formen der poli­ti­schen Kultur.

Kannst Du sozio­lo­gisch beschrei­ben, wer hierfür anfäl­lig ist? 

Ich tue mich gene­rell schwer mit ver­all­ge­mei­nern­den Aus­sa­gen, etwa zu der Frage, ob der con­fir­ma­tion bias durch die digi­ta­len Medien zuge­nom­men hat. Die Antwort kann da ja nur sein: Jein. Man muss nämlich schon genau gucken, wie diese Netz­werke auf bestimmte Per­sön­lich­keits­ty­pen oder soziale Gruppen wirken. Manche nutzen die sozia­len Medien, um sich breiter, viel­fäl­ti­ger zu infor­mie­ren, und bei anderen hat sich das Spek­trum, aus dem sie Infor­ma­tio­nen bezie­hen, verengt. Es gibt beide Effekte. Auch das mit der Pola­ri­sie­rung ist viel­schich­tig. Während manche Leute sich durch die Digi­ta­li­sie­rung viel­leicht besser ver­stän­di­gen können, sind andere stärker aus­ein­an­der­ge­drif­tet. Aller­dings können sich auch solche Ver­schie­bun­gen in bloß mino­ri­tä­ren Milieus ungüns­tig auf die gesamte Gemenge­lage aus­wir­ken und dis­kur­sive Reso­nanz­fel­der nach­hal­tig zerreißen.

Als anfäl­lig ins­be­son­dere für die ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Nar­ra­tive, wie wir sie von rechts kennen, erachte ich zum Bei­spiel bestimmte Alters­grup­pen. Hier ist es ja weniger die junge Gene­ra­tion, der oftmals feh­lende Medi­en­kom­pe­tenz nach­ge­sagt wird, die darauf her­ein­fällt. Es ist eher die Alters­gruppe zwi­schen 40 und 65 Jahren, und darüber nimmt das wieder ab, einfach auch, weil Ältere sel­te­ner digi­tale Medien nutzen. Das benannte Segment ist jeden­falls eines, dessen poli­ti­sche Wahr­neh­mung der Welt, ein­schließ­lich ihres Sicher­heits­emp­fin­dens, sich in der vor­di­gi­ta­len Zeit her­aus­ge­bil­det hat. Und daraus haben sich ab Mitte der 2010er Jahre viele einen Face­book-Account, zum Bei­spiel, zuge­legt, wo sie dann mit ganz anderen, oftmals dra­ma­ti­schen Infor­ma­tio­nen kon­fron­tiert wurden, die in den sozia­len Medien ja beson­ders kata­ly­siert werden. Das hat dann nicht nur ver­un­si­chert, sondern bei vielen auch die Frage auf­ge­wor­fen, warum sie solche Infor­ma­tio­nen nicht auch in den her­kömm­li­chen Medien bekommen.

Wie groß ist die Gruppe, die über Absto­ßungs­re­ak­tio­nen zu post­fak­ti­schen Hal­tun­gen gelangen?

Empi­risch lässt sich das schwer sagen. Die meisten Unter­su­chun­gen, die dieses Problem tan­gie­ren, bezie­hen sich auf den ame­ri­ka­ni­schen Kontext, und die Ergeb­nisse hier sind nur bedingt über­trag­bar auf Deutsch­land, weil die Pola­ri­sie­rung dort ganz anders vor­an­ge­schrit­ten ist, aber auch, weil der poli­ti­sche Diskurs in einem anderen poli­ti­schen und media­len System statt­fin­det. Was spe­zi­ell die Emp­fäng­lich­keit für ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­sche Inhalte in Deutsch­land betrifft, hat gerade erst das CeMAS eine kleine Unter­su­chung vor­ge­legt. Je nach Ver­schwö­rungs­nar­ra­tiv sind das zwi­schen sieben und 15 Prozent der Bevöl­ke­rung. Damit ist aller­dings noch nichts darüber aus­ge­sagt, wie das mit Reak­tanz­ef­fek­ten zusam­men­hängt. Und gene­rell betrifft das nur post­fak­ti­sche Inhalte, wie sie von rechts ver­brei­tet werden.

Meines Erach­tens ist das Problem nämlich nicht nur dem rechten Diskurs vor­be­hal­ten. Wenn man sich etwa das linke Spek­trum in Bezug auf den Ukrai­ne­krieg anschaut, dann sieht man da auch einen Prozess der Mei­nungs­for­mie­rung, der viel mit Abgren­zungs­be­dürf­nis­sen zu tun. Gerade „revo­lu­tio­näre“ Akteure haben sich da, nach anfäng­li­cher Unsi­cher­heit, bei einer Posi­tion ein­ge­pen­delt, die einen größt­mög­li­chen Abstand zur Regie­rung wider­spie­gelt, ohne sich mit dem rus­si­schen Angriffs­krieg gemein zu machen. Heraus kommen dann sehr indif­fe­rente Nar­ra­tive, etwa von einem „inner­im­pe­ria­lis­ti­schen Kon­flikt“. Hätte die deut­sche Regie­rung die Ukraine gänz­lich im Stich gelas­sen, hätten sie wahr­schein­lich der Regie­rung Verrat im Kampf gegen den rus­si­schen Faschis­mus vorgeworfen.

Also auch von links gibt es iden­ti­täts­ge­trie­bene Pro­zesse der Mei­nungs­for­mie­rung, die sich gerade im digi­ta­len Kontext zum Post­fak­ti­schen ver­stei­gen können. Die fallen nur ganz unter­schied­lich aus und auch auf, weil sie aus anderen ideo­lo­gi­schen Dis­po­si­tio­nen resul­tie­ren. Es ist ja nicht so, dass etwa in der Coro­na­krise ver­här­tete, über­bor­dende Posi­tio­nen nur von rechts oder von Quer­den­kern ver­tre­ten wurden. Und auch in den Debat­ten um etwa Iden­ti­täts­po­li­tik wird den Kri­ti­kern eigent­lich schon gar nicht mehr zuge­hört, über­wiegt der Impuls, etwas Gesag­tes rou­ti­niert in eine Schub­lade zu stecken, statt am sach­li­chen Kern zu dis­ku­tie­ren. Da nimmt man quasi aus Prinzip eine Wider­spruchs­hal­tung gegen die ein, die einem – ja – ver­hasst sind. Das kann man, glaube ich, ganz gut beob­ach­ten, nur wird das bisher kaum untersucht.

Vielen Dank für das Gespräch.


Zur Person

Holger Marcks ist Co-Leiter der For­schungs­stelle Netz­ana­lyse inner­halb der Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft „Gegen Hass im Netz“. Er ist Sozi­al­wis­sen­schaft­ler mit Schwer­punkt Radi­ka­li­sie­rung, ins­be­son­dere im digi­ta­len Kontext, und Co-Autor von „Digi­ta­ler Faschis­mus. Die sozia­len Medien als Motor des Rechts­extre­mis­mus“ (Duden­ver­lag, 2020; zusam­men mit Maik Fielitz).


Inter­view: Chris­toph Becker

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