Aus Prinzip dagegen: Über identitätsgetriebene Prozesse in der Meinungsformierung
Im Interview beschreibt der Sozialwissenschaftler Holger Marcks, wie politische Haltungen immer stärker aus der reflexhaften Ablehnung des Anderen gebildet werden. Auch für sogenannte „alternative Medien“ gehören grundlegende Gegnerschaft zu etablierten Medien und Systemopposition zum Selbstverständnis.
Gegenmedien: Wenn wir heute über die besonderen Herausforderungen im digitalen Raum sprechen, geht es häufig um „Polarisierung“. Du sprichst in diesem Kontext von „identitätsgetriebener“ Polarisierung und Abstoßungseffekten. Was ist damit gemeint?
Holger Marcks: Die Forschung zur Online-Radikalisierung, aber auch zu Polarisierung im digitalen Kontext beschäftigt sich oft mit psychologischen Mechanismen der Politisierung, die in radikale oder extreme Positionen führen können. Speziell im digitalen Kontext stellt sich da vor allem die Frage, wie diese Mechanismen im virtuellen Umfeld funktionieren, also wie bestimmte Anreize in der Meinungsformierung durch das technische Design der digitalen Netzwerke befördert werden.
Identitätsgetriebene Prozesse gibt es eigentlich immer in der Meinungsformierung – und die gab es auch vor der Digitalisierung. So etwas wie der confirmation bias – also die Tendenz, Informationen zu bevorzugen, die unsere Meinung bestätigen – hat natürlich schon immer existiert. Die Frage ist nun, wie sich etwa so ein bias heute im Diskurs auswirkt, jetzt, wo wir andere Formen der Interaktion und eine viel höhere Vernetzungsdichte haben, aber auch die Verbreitung von Informationen anders funktioniert.
In Sachen Meinungsformierung bzw. Diffusion von Inhalten liegt der Fokus häufig auf Resonanzfaktoren: Wann fühlen sich die Leute bestimmten Positionen zugeneigt? Logisch, dass das viel mit Identität zu tun hat. Mittlerweile geraten aber auch verstärkt Abstoßungseffekte in den Blick. Hier haben wir es mit dem Gegenstück der Resonanz zu tun, also Reaktanz, und auch das hat mit Identität zu tun, etwa wenn Menschen aus Prinzip die Position einer bestimmten Person ablehnen, weil sie sich überhaupt nicht damit identifizieren können, was diese repräsentiert.
Studien mit einem solchen Fokus beziehen sich vor allem auf den US-amerikanischen Kontext. Dort beobachtet man vermehrt ein Verhalten, wo dem gegnerischen Lager per se abgesprochen wird, zu einem Sachverhalt etwas Vernünftiges sagen zu können. Auch solche Mechanismen, die zum Beispiel unter dem Begriff der negative partisanship verhandelt werden, gab es selbstverständlich schon vor der Digitalisierung. Und auch hier ist wieder die Frage, wie sich das im digitalen Kontext einfügt. Es scheint jedenfalls so zu sein, dass in den digitalen Netzwerken mit ihren kreisenden Erregungen, hohen Spontanaktivitäten und ständigen Reibungen solche Abstoßungseffekte treibend in der Meinungsformierung sind.
Also geht es immer um das Gegenteil dessen, was jene sagen, die man nicht mag?
Es ist nicht so, dass es eine Position gibt, die ein verhasstes Subjekt vertritt – und dann ergibt sich im anderen Lager daraus eine einheitliche Gegenposition. Zunächst einmal sehen wir, dass in bestimmten Online-Milieus bestimmten Informationsquellen partout nicht mehr geglaubt wird. In Deutschland etwa haben wir Milieus, die sich der Querdenkenszene zugehörig fühlen oder auch der AfD und für die es eine Frage der Identität geworden ist, insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder bestimmten politischen Akteuren zu widersprechen. Man nimmt also fast schon automatisch eine konträre Position zu dem ein, was man als Alterität oder Alienität empfindet: das, mit dem man sich nicht identifiziert oder von dem man sich gar entfremdet fühlt. Was dann genau die gegenteilige Position darstellt, ist eine andere Diskussion.
Bestimmten Akteuren nicht mehr zu glauben – würdest Du das schon als Abstoßungseffekt beschreiben?
Es ist die Frage, wie feingliedrig man das analysieren möchte, wo genau der Abstoßungseffekt beginnt. Dem gehen ja auch Prozesse voraus. Dass die Glaubwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen oder herkömmlichen Medien bei vielen Menschen unterspült wurde, mag vielleicht auf latenten Aversionen aufbauen, hat aber auch mit politischen Narrativen zu tun, die den Hass auf diese überhaupt erst konstituieren. Es ist also auch ein Resultat von diskursiven Prozessen, die insbesondere in den letzten zehn Jahren mit dem Auftrieb der sozialen Medien ermöglicht wurden. Hier ist es vor allem rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräften sehr gut gelungen, durch Gaslighting-Techniken das Vertrauen in bestimmte Medienakteure zu untergraben.
Das „Lügenpresse“-Narrativ ist hierzulande ja bekannt, im nordamerikanischen Kontext kennt man das eher unter dem Chiffre MSM – mainstream media. Da ging es rechten Akteuren in erster Linie gar nicht darum, selbst ein konsistentes Weltbild als Alternative zu verbreiten, sondern vielmehr darum, diese Quellen in den Köpfen als unglaubwürdig, ja als böswillige Manipulatoren zu verankern, weil sie potentiell den eigenen Informationen widersprechen. Indem man sie nämlich als positive Referenzsysteme ausschaltet, gelangen die Leute eher in die Abhängigkeit der eigenen Medienwelt.
Gaslighting ist ein Begriff aus der Psychologie, der in den letzten Jahren im Kontext des post-faktischen Diskurses verstärkt auch in die Politikwissenschaft Einzug hielt. Der Begriff kommt eigentlich von einem Theaterstück, das u.a. in den 1940er Jahren mit Ingrid Bergmann verfilmt wurde. Da geht es um einen Ehemann, der seine Frau ständig abspricht, dass sie ihrer eigenen Wahrnehmung trauen kann. Konkret beobachtet sie etwa, dass das Licht im Haus öfters flackert, doch er sagt ihr ständig, dass dies nicht der Fall sei, so dass sie irgendwann ihrer Wahrnehmung nicht mehr traut. Sie gerät damit immer mehr in seine Abhängigkeit und er kann sie dadurch umso mehr manipulieren. Im übertragenen Sinn der Politikwissenschaft bezeichnet der Begriff den Vorgang, wenn politisch-manipulative Akteure versuchen, die Glaubwürdigkeit bestimmter Quellen zu unterminieren, damit die Adressaten der Propaganda in die Abhängigkeit vom eigenen Informationssystem geraten.
Wie kommt es überhaupt zum confirmation bias, also dazu, dass wir manchen Akteuren oder Quellen zuneigen?
Im Detail müsste man da einen Psychologen heranziehen. Ich kann mich nur dazu äußern, wie das Konzept in verdichteter Form von der Politikwissenschaft angewendet wird. Da wird das etwa häufig unter dem Gesichtspunkt diskutiert, wie die Filterung von Information der Stabilisierung politischer Identitäten dient. Eng damit verwoben ist auch das Konzept der kognitiven Dissonanz, insofern gerade fragile Identitäten dazu tendieren, widersprechende Informationen auszublenden oder durch Konstrukte wegzurationalisieren, die sie als falsch oder vernachlässigbar kontextualisieren. Es gibt da ein ganzes Set von Abwehrmechanismen, mit denen eigentlich widersprüchliche Weltbilder aufrechterhalten werden können.
Aber das, worüber wir hier reden, geht darüber hinaus. Meine These ist, dass im digitalen Kontext, wo sich auch antagonistische Akteure permanent in Interaktion miteinander befinden, die politische Identität viel stärker über die Abgrenzung von den Akteuren herausgebildet wird, zu denen eine gewisse Abneigung bereits vorangelegt ist, etwa der kulturellen Art. Hier macht sich denn auch die metapolitische Vorarbeit bemerkbar, die etwa rechtsextreme Akteure im vergangenen Jahrzehnt geleistet haben, mit der sie ein bestimmtes Niveau an intuitivem Hass in Teilen der Bevölkerung kultivieren konnten – zum Beispiel gegenüber den herkömmlichen Medien. Das war ja im Prinzip eine Grundlage, auf der dann auch so etwas wie die Querdenkerbewegung aufbauen konnte.
Wie schlägt sich das in den aktuellen Debatten nieder?
Wir sehen die meinungsformierende Kraft der Aversion deutlich im Übergang von der Pandemie zum neuen Großthema: dem Ukrainekrieg. Diejenigen, die vorher den Coronaleugnern zugeordnet wurden und sehr anfällig für Verschwörungstheorien waren, sind im Wesentlichen dieselben Akteure wie jene, die jetzt für Verschwörungstheorien im Kontext des Ukrainekriegs empfänglich sind oder russische Propaganda reproduzieren. Da haben wir ein sehr starkes Überlappen bei den Netzwerken, aber auch starke Ähnlichkeiten beim sozialen Typus, der sich dort tummelt. Die politische Psychologin Pia Lamberty hat hier treffenderweise bereits darauf hingewiesen, dass die konkreten Inhalte und Positionierungen in diesen Milieus eher sekundär seien. Es geht nur vordergründig um so etwas wie die Impfpflicht. Hintergründig speist sich die Meinungsformierung aus einer rebellischen Attitüde gegenüber bestimmten Gruppen, denen man mit Verachtung oder Ekel begegnet.
Insofern sind die Positionen, die hier eingenommen werden, auch ein Stück weit austauschbar; der Widerspruch zu den gegnerischen Narrativen ist da fast schon Selbstzweck. Die narrativen Trends dienen hier als eine Art Ereignis, unter denen man sich zusammenfinden und die kollektive Identität leben kann. Das spiegelt sich auch in den Inhalten dieses Spektrums wider, das ja wirklich ein breites Patchwork von teilweise widersprüchlichen Themen und Inhalten umfasst, teilweise grotesker und absurder Art, denen viele Anhänger selbst nicht wirklich glauben. Und trotzdem ist dieses Spektrum relativ stabil, weil es eben durch den Kitt der gemeinsamen Ablehnung eines gegnerischen, ja feindlichen Gegenübers zusammengehalten wird.
Das entspricht auch den Erkenntnissen aus unserer Beobachtung „alternativer Medien“. Da zeigen sich bei aller Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit zwei verbindende Feindbilder: die etablierten Medien und die demokratischen Institutionen bzw. deren Vertreter.
Ja, das spiegelt sich auch in diesen neuen Feindbildern wider, die aus dieser Ecke verstärkt kommuniziert werden. Mit der sogenannten Flüchtlingskrise hatten wir ja vor allem das Feindbild des (muslimischen) Flüchtlings boomen gesehen. Aber auch das ging damals schon häufig damit einher, dass Politiker verstärkt zum Feindbild wurden, insofern sie ja als Ermöglicher dieser angeblichen Gefährdung gedacht wurden. Das hat sich auch in entsprechenden Angriffen auf Lokalpolitiker gezeigt – und insbesondere in dem Lübcke-Attentat. Zunehmend ging es dabei auch gegen Journalisten, weil diese jene Gefahr durch Fake News runterspielen würden – und schließlich, mit der Pandemie, dann auch gegen Wissenschaftler. Dass mittlerweile ganze Berufsgruppen zu Feindbildern erklärt werden, ist definitiv eine neue Qualität, und auch das steht für die Zunahme von politisch aufgeladenen Aversionen, die manche Milieus entwickelt haben, oft verbunden mit einer Art Ekel gegenüber bestimmten Formen der politischen Kultur.
Kannst Du soziologisch beschreiben, wer hierfür anfällig ist?
Ich tue mich generell schwer mit verallgemeinernden Aussagen, etwa zu der Frage, ob der confirmation bias durch die digitalen Medien zugenommen hat. Die Antwort kann da ja nur sein: Jein. Man muss nämlich schon genau gucken, wie diese Netzwerke auf bestimmte Persönlichkeitstypen oder soziale Gruppen wirken. Manche nutzen die sozialen Medien, um sich breiter, vielfältiger zu informieren, und bei anderen hat sich das Spektrum, aus dem sie Informationen beziehen, verengt. Es gibt beide Effekte. Auch das mit der Polarisierung ist vielschichtig. Während manche Leute sich durch die Digitalisierung vielleicht besser verständigen können, sind andere stärker auseinandergedriftet. Allerdings können sich auch solche Verschiebungen in bloß minoritären Milieus ungünstig auf die gesamte Gemengelage auswirken und diskursive Resonanzfelder nachhaltig zerreißen.
Als anfällig insbesondere für die verschwörungsideologischen Narrative, wie wir sie von rechts kennen, erachte ich zum Beispiel bestimmte Altersgruppen. Hier ist es ja weniger die junge Generation, der oftmals fehlende Medienkompetenz nachgesagt wird, die darauf hereinfällt. Es ist eher die Altersgruppe zwischen 40 und 65 Jahren, und darüber nimmt das wieder ab, einfach auch, weil Ältere seltener digitale Medien nutzen. Das benannte Segment ist jedenfalls eines, dessen politische Wahrnehmung der Welt, einschließlich ihres Sicherheitsempfindens, sich in der vordigitalen Zeit herausgebildet hat. Und daraus haben sich ab Mitte der 2010er Jahre viele einen Facebook-Account, zum Beispiel, zugelegt, wo sie dann mit ganz anderen, oftmals dramatischen Informationen konfrontiert wurden, die in den sozialen Medien ja besonders katalysiert werden. Das hat dann nicht nur verunsichert, sondern bei vielen auch die Frage aufgeworfen, warum sie solche Informationen nicht auch in den herkömmlichen Medien bekommen.
Wie groß ist die Gruppe, die über Abstoßungsreaktionen zu postfaktischen Haltungen gelangen?
Empirisch lässt sich das schwer sagen. Die meisten Untersuchungen, die dieses Problem tangieren, beziehen sich auf den amerikanischen Kontext, und die Ergebnisse hier sind nur bedingt übertragbar auf Deutschland, weil die Polarisierung dort ganz anders vorangeschritten ist, aber auch, weil der politische Diskurs in einem anderen politischen und medialen System stattfindet. Was speziell die Empfänglichkeit für verschwörungsideologische Inhalte in Deutschland betrifft, hat gerade erst das CeMAS eine kleine Untersuchung vorgelegt. Je nach Verschwörungsnarrativ sind das zwischen sieben und 15 Prozent der Bevölkerung. Damit ist allerdings noch nichts darüber ausgesagt, wie das mit Reaktanzeffekten zusammenhängt. Und generell betrifft das nur postfaktische Inhalte, wie sie von rechts verbreitet werden.
Meines Erachtens ist das Problem nämlich nicht nur dem rechten Diskurs vorbehalten. Wenn man sich etwa das linke Spektrum in Bezug auf den Ukrainekrieg anschaut, dann sieht man da auch einen Prozess der Meinungsformierung, der viel mit Abgrenzungsbedürfnissen zu tun. Gerade „revolutionäre“ Akteure haben sich da, nach anfänglicher Unsicherheit, bei einer Position eingependelt, die einen größtmöglichen Abstand zur Regierung widerspiegelt, ohne sich mit dem russischen Angriffskrieg gemein zu machen. Heraus kommen dann sehr indifferente Narrative, etwa von einem „innerimperialistischen Konflikt“. Hätte die deutsche Regierung die Ukraine gänzlich im Stich gelassen, hätten sie wahrscheinlich der Regierung Verrat im Kampf gegen den russischen Faschismus vorgeworfen.
Also auch von links gibt es identitätsgetriebene Prozesse der Meinungsformierung, die sich gerade im digitalen Kontext zum Postfaktischen versteigen können. Die fallen nur ganz unterschiedlich aus und auch auf, weil sie aus anderen ideologischen Dispositionen resultieren. Es ist ja nicht so, dass etwa in der Coronakrise verhärtete, überbordende Positionen nur von rechts oder von Querdenkern vertreten wurden. Und auch in den Debatten um etwa Identitätspolitik wird den Kritikern eigentlich schon gar nicht mehr zugehört, überwiegt der Impuls, etwas Gesagtes routiniert in eine Schublade zu stecken, statt am sachlichen Kern zu diskutieren. Da nimmt man quasi aus Prinzip eine Widerspruchshaltung gegen die ein, die einem – ja – verhasst sind. Das kann man, glaube ich, ganz gut beobachten, nur wird das bisher kaum untersucht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person
Holger Marcks ist Co-Leiter der Forschungsstelle Netzanalyse innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft „Gegen Hass im Netz“. Er ist Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt Radikalisierung, insbesondere im digitalen Kontext, und Co-Autor von „Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus“ (Dudenverlag, 2020; zusammen mit Maik Fielitz).
Interview: Christoph Becker