Proteste: „Gefährlich wird es, wenn Rechtsextremismus normalisiert wird“
Der Soziologe Prof. Matthias Quent im Interview über die Gefahr der derzeitigen Proteste, die Rolle von rechten AkteurInnen und „Alternativmedien“, antiökologische Bewegungen und den „Klimarassismus“, über den er ein Buch geschrieben hat. Das Interview führte Erika Balzer.
Erika Balzer: Herr Quent, seit Wochen versammeln sich Tausende in verschiedenen Städten, um gegen steigende Energiepreise zu protestieren. Rechte Kräfte mobilisieren zum „Wutwinter“ und rufen u.a. zum Widerstand gegen eine „Ökodiktatur“ auf, aber auch zum Ende der Sanktionen gegen Russland. Worauf zielen diese Proteste und worum geht es wirklich?
Matthias Quent: Das ist gar nicht so einfach zusammenzufassen. Viele dieser Proteste werden von rechtsextremen Akteur*innen organisiert, begleitet und genutzt. Gleichzeitig sind die Forderungen auf diesen Veranstaltungen nicht unbedingt rechtsextrem. Häufig geht es um klassische Anti-Corona-Themen, libertäre Themen wie Frieden mit Russland oder gegen das Maskentragen. Deutschland habe einen Wirtschaftskrieg gegen die eigene Bevölkerung erklärt, lautet eine These. Dabei werden aber die komplexen Ursachen völlig verkannt. Auf den Demonstrationen kommt viel zusammen: Neben Existenzängsten wird auch eine Verbundenheit und der Wunsch nach Freundschaft mit Russland geäußert. Diese Thematiken überschneiden sich mit denen rechtsextremer Akteur*innen und Ideologien, die dieselben Teilziele verfolgen und sich eben auch an Russland orientieren, also an einem autoritären und faschistoiden Staat, der nichts von Genderthemen, Klimawandel oder einer starken Zivilgesellschaft hält und der als Vorbild angesehen wird. Die autoritäre Orientierung an einem starken männlichen Führer wie Putin wird hier wichtig.
Gleichzeitig gibt es Demonstrationen, die von Handwerkerinnungen oder eher konservativen Gruppen organisiert werden, wo extreme Inhalte nicht dominant sind. Aber es wird eben eine Stimmung aufgenommen, die in Ostdeutschland Russland gegenüber zumindest Mainstream ist. Gefährlich wird es, wenn es keine Abgrenzung gibt und Rechtsextremismus normalisiert wird. Das Ergebnis haben wir bei den Wahlen in Niedersachsen gesehen und sehen wir in Prognosen in den anderen Bundesländern, wo die AfD fünf Prozentpunkte gewinnen konnte und das nicht, weil sie so stark ist, sondern aufgrund der gesellschaftlichen Bedingungen, die derzeit herrschen.
Sie haben Ostdeutschland angesprochen. Am 3. Oktober waren es über 100.000 Demonstrierende in diesem Teil des Landes. Wieso ist die Protestbereitschaft hier so groß?
Quent: Zum einen ist das rechte Protestspektrum dort deutlich breiter aufgestellt, das hat man bei Corona schon gesehen. Im Grunde haben die Proteste dort nie aufgehört. Es gibt Städte, da wurde ununterbrochen montags demonstriert. Nun gibt es eine neue Themensetzung und einen verstärkten Zulauf. Das liegt einerseits an der politischen Kultur Ostdeutschlands. Hier gibt es eine größere Distanz gegenüber dem demokratischen System, der Regierung, einen regelrechten Hass auf die Grünen, der sehr spürbar ist und eine autoritätsorientierte Einstellung. Andererseits liegt es auch an der materiellen Vulnerabilität. Es gibt in Ostdeutschland faktisch viel weniger Geld, Rücklagen, Erbschaften und damit einfach viel weniger Möglichkeiten, hohe Inflation und Energiepreise auszugleichen. Begründete materielle Existenzängste und Transformationsängste sind viel intensiver. Das sind reale Ängste, die allerdings von den starken rechten Akteur*innen gezielt geschürt werden. Das resultiert in einem Wohlfühl-Terrain für die Herausbildung von Protesten.
Sind es die gleichen Menschen, die mit den sogenannten Mahnwachen schon für Frieden mit Russland, als Pegida gegen die Asylpolitik und dann gegen die Coronamaßnahmen auf die Straßen gingen?
Quent: Es sind teilweise die gleichen Akteur*innen, die vor allem im Hintergrund über Social Media diese Proteste organisieren. Bei den Friedensmahnwachen in Erfurt, die ich damals begleitet habe, waren es nie mehr als 60 bis 80 Leute. Die Narrativebene geht tiefer, das ist richtig, aber es ist nun eine ganz andere Größenordnung. Für diese neue Dimension hat besonders die Etablierung der AfD in den Parlamenten und die Normalisierung ihrer Strukturen gesorgt. Es ist auch so, dass diese Themen in eine bestimmte, größere Metaerzählung, beispielsweise die des „Great Reset“ eingespeist werden – die Vorstellung ist, dass Corona, Krieg, digitale Transformation, Genderdebatten und eben auch eine ökologische Transformation Teil eines großen Plans seien, um die Bevölkerung und Volkswirtschaften völlig auf den Kopf zu stellen.
Besonders problematisch ist, wenn Menschen, die bisher nicht radikalisiert, aber unzufrieden sind mit der Politik und auch völlig legitim unzufrieden sind, sich von diesem populistischen oder widerständigen Ton angesprochen fühlen. Also: Ja, die Strukturen sind schon lange da, aber die Gefahr in der jetzigen Krise ist die Anschlussfähigkeit. Sei es aus einer naiv-pazifistischen, einer linken oder rechtsnationalistischen Überzeugung oder einfach aus nachvollziehbaren Existenzängsten. Es wird immer schwieriger eine differenzierte Kritik an den richtigen Dingen zu äußern, ohne dass sie sich in diese populistisch bis faschistische Bewegung einspeist.
Wie wahrscheinlich ist es denn, dass diese Proteste eskalieren und zu einer faschistischen Bewegung werden?
Quent: Wir sind auf dem besten Weg dahin. Der AfD und anderen Protestorganisationen der neuen Rechten gelingt es ja, sich als Speerspitze dieses Protests zu gerieren. Zum Beispiel sich als Teile des Protestspektrums in Lubmin den Identitären angeschlossen haben. Das Faschisieren dieser Proteste findet bereits statt. Auf den Straßen haben sich Angsträume gebildet, Journalist*innen und Gegendemonstrant*innen werden angegriffen. Es gibt Kontexte, in denen es zu Gewalt kommt bzw. kommen kann. Die Gefahr ist meines Erachtens eher weniger, dass es zu Riots kommt, sondern, dass diese Dynamik in alltäglicher Normalisierung mündet.
Ich würde gerne noch auf die Rolle der „alternativen Medien“ eingehen. Viele ihrer Themen finden sich ja auch auf den Protesten wieder. Welche Rolle spielen sie in diesem Kontext?
Quent: Sie spielen eine große Rolle, weil sie die zentralen Orte und Instanzen sind, wo Zusammenhalt hergestellt wird. Narrative, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen und die für Außenstehende auch eher befremdlich wirken, werden in „alternativen Medien“ normalisiert und verbreitet. Das gilt für Desinformation aus Russland, für pro-russische Desinformation aus Deutschland bis hin zur Verächtlichmachung der Demokratie als System. Also wird auch die Radikalisierung der Proteste normalisiert, indem über demokratisch legitime Proteste hinaus eine systemfeindliche und auch menschenfeindliche Haltung vermittelt wird und zentrale Erzählungen vorgegeben werden.
Narrative, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen und die für Außenstehende auch eher befremdlich wirken, werden in „alternativen Medien“ normalisiert und verbreitet. Das gilt für Desinformation aus Russland, für pro-russische Desinformation aus Deutschland bis hin zur Verächtlichmachung der Demokratie als System.“
Natürlich ist es auch so, dass Medien wie AUF1 (ein österreichischer verschwörungsideologischer Online-Sender, d. Red.) sozusagen diesen Spirit, diese Aufregung aufgreifen und Dissonanzen mit dem Umgang mit den sogenannten Mainstream-Medien nutzen wollen, um das System aufzubrechen und sich selbst als Medienmilieu zu etablieren. Da spielen natürlich auch finanzielle Interessen eine große Rolle. Es ist ja nicht mehr nur der Messangerdienst Telegram, in den letzten Monaten wurden technische Strukturen erarbeitet, die professionalisierte Inhalte präsentieren sollen. Für die Zukunft kann das natürlich eine zunehmende Spaltung bedeuten, da solche Medien Radikalisierungspotenzial haben.
Sie beschäftigen sich auch mit antiökologischen Protesten. Ihr neues Buch trägt den Titel „Klimarassismus“. Was versteht man darunter?
Queent: Seit etwa den 80er Jahren gibt es Debatten über Umweltrassismus, also über die ungleichen und negativen Folgen von Umweltgegenbenheiten. Diese Auseinandersetzung wird seit einigen Jahren auch auf die Folgen des Klimawandels übertragen. Dabei lässt sich feststellen, dass die Personen, die am wenigsten Verantwortung für den Klimawandel tragen, am meisten darunter leiden und oftmals historisch von rassistischer Diskriminierung betroffen sind.
Es gibt Befunde in der Forschung, die die Industrialisierung als Ursache des Klimawandels sehen und den Kolonialismus als Begleiterscheinung der Industrialisierung. Deswegen betrachten wir es auf einer Ebene als strukturelle Form des Rassismus.
Auf der anderen Seite gibt es die Ebene der Radikalisierung. Damit meinen wir, dass die Antwortversuche bzw. Leugnungen des menschengemachten, vor allem im globalen Norden und vor allem von Weißen hergestellten Klimawandels, von der äußersten Rechten auf verschiedene Art und Weise bearbeitet wird, aber immer in einem radikalisierten Rassismus resultiert.
In Ihrem Buch benennen sie zwei Strömungen. Welche sind das?
Quent: Die dominantere Strömung ist der Antiökologismus – darunter fällt die Ablehnung von Maßnahmen zum globalen Klimaschutz und die Leugnung der Existenz des menschengemachten Klimawandels. Das finden wir in Parteiprogrammen der AfD und bei anderen Parteien Rechtsaußen. Antiökolog*innen können sich aber durchaus lokal um Klimaschutz bemühen. Sie wollen zwar die globale Verantwortung nicht übernehmen, aber das deutsche Volk soll saubere Wälder haben.
Die andere Strömung ist die ökofaschistische, die vergleichsweise nischig ist, aber eine lange Tradition bis in den Nationalsozialismus hat. Hier wird Klima- und Umweltschutz als Instrument genutzt, um eine völkische Blut- und Bodenpolitik durchzusetzen. Ein Argument ist hier beispielsweise, dass der Bevölkerungswachstum unter Muslim*innen oder in Afrika schuld sei für den Klimawandel und dieser müsse deshalb reduziert werden. Diese Richtung ist zwar weniger populär, aber trotzdem gefährlich. Der Attentäter von Christchurch hat die Ermordung von 52 Muslim*innen so gerechtfertigt. Solche Stimmen kommen auch in Deutschland aus einzelnen Richtungen, wie aus der „Jungen Alternativen“ oder der neurechten Zeitschrift Die Kehre. Dort wird das Klimathema genutzt, um eine antisemitische, antimoderne und letztlich faschistische Politik zu rechtfertigen.
Mit der zunehmenden Dringlichkeit der Klimakrise aber und dem Erstarken der Klimabewegung, u.a. auch durch Fridays For Future, hat sie an Bedeutung gewonnen. Rechte Bewegungen sind ja insgesamt Abwehrbewegungen gegen Modernisierungstrends.“
Seit wann spielt die ökologische Wende für rechtsextreme Kräfte überhaupt eine Rolle?
Quent: Für bestimmte Akteur*innen gab es das Thema schon immer. Mit der zunehmenden Dringlichkeit der Klimakrise aber und dem Erstarken der Klimabewegung, u.a. auch durch Fridays For Future, hat sie an Bedeutung gewonnen. Rechte Bewegungen sind ja insgesamt Abwehrbewegungen gegen Modernisierungstrends. Die Thematik dient auch als populistisches Mittel zur intellektuellen Unterfütterung der Neuen Rechten.
Ich würde gerne nochmal zurück zu den derzeitigen Protesten kommen. Was wünschen Sie sich von der Politik und was kann die Zivilgesellschaft tun, um diese Entgrenzung der Positionen auf der Straße zu stoppen?
Quent: Es muss eine sozial gerechte Politik geben, die nicht nur die größten Härten abmindert, sondern das Gerechtigkeitsgefühl in der Gesellschaft, das extrem gelitten hat, wieder herstellt. Es müssen Maßnahmen unternommen werden, die auf eine gerechte Verteilung der Krisenkosten hinauslaufen. D.h. stärkere Schultern auch stärker zu belasten. Das andere ist natürlich eine Stärkung der politischen Bildung und der Zivilgesellschaft im Umgang mit diesen Entwicklungen und Herausforderungen. Gerade im ländlichen Raum in Ostdeutschland werden diese Akteur*innen in die Defensive getrieben. Es wäre sicher auch wichtig, darüber zu sprechen, wie eine Zukunft gestaltet werden kann, ohne diese Abhängigkeiten und darüber zu sprechen, wer die Verantwortung für fossile Energien übernimmt. Das ist die zentrale Frage im Hinblick auf die ökologische Wende. Politik muss Verantwortung übernehmen, für Fehler, die gemacht wurden und die weiter gemacht werden, um bestimmten Akteur*innen den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person
Matthias Quent ist Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal und Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena. Sein Sachbuch „Klimarassismus“ (mit Christoph Richter und Axel Salheiser) erschien 2022.
Interview: Erika Balzer