Auto­ri­ta­ris­mus mit liber­tä­rem Gestus – kein ganz neues Phänomen

Cover von „Gekränkte Frei­heit“. Abbil­dung: Suhr­kamp Verlag

Blinde Flecken der „Kri­ti­schen Theorie“: Carolin Amlin­ger und Oliver Nachtwey „Gekränkte Frei­heit. Aspekte des Liber­tä­ren Auto­ri­ta­ris­mus“: Eine Rezen­sion von Marko Martin.

Hatte einst Lenin „eine Partei neuen Typus“ ins Leben gerufen, ist nun in den letzten Jahren eine Rebel­len­schar (ver­meint­lich) neuen Typus in der Öffent­lich­keit präsent. Quer­den­ker, Covid-Leugner, Putin-Fans, Pharma-Kri­ti­ker, Masken-Ver­wei­ge­rer, Eliten-Ver­äch­ter – you name it. Sie alle übri­gens stets bei­der­lei Geschlechts, obwohl in diesem Milieu wohl ein Binnen‑I oder ein Gen­der­stern­chen für helle Auf­re­gung und Empö­rung sorgen würde.

Es spricht für Carolin Amlin­gers und Oliver Nachtweys aktu­el­les Buch „Gekränkte Frei­heit“, dass die beiden an der Basler Uni­ver­si­tät Lite­ra­tur­wis­sen­schaft bzw. Sozio­lo­gie Leh­ren­den jene – so der Unter­ti­tel – „Aspekte des Liber­tä­ren Auto­ri­ta­ris­mus“ dennoch ohne mokante Von-oben-Herab-Atti­tüde ana­ly­sie­ren, wie man sie etwa aus einigen TV-For­ma­ten oder ela­bo­rier­te­ren Mei­nungs­fo­ren kennt. Am Anfang nämlich steht eine große Ver­wun­de­rung ange­sichts des Phä­no­mens: „Anders als klas­si­sche Rechte wollen die Men­schen, die nun auf die Straße gehen, keinen starken, sondern einen schwa­chen, gera­dezu abwe­sen­den Staat. Sie tragen rechte Ver­schwö­rungs­theo­rien vor, aber den Vorwurf, rechts zu sein, weisen sie ent­schie­den von sich. Über­ge­ord­nete Instan­zen oder vor­ge­ge­be­nes Wissen betrach­ten sie mit Skepsis. Die liber­tä­ren Auto­ri­tä­ren iden­ti­fi­zie­ren sich nicht mit einer Füh­rer­fi­gur, sondern mit sich, ihrer Auto­no­mie. Anders als klas­si­sche Auto­ri­täre, die die ver­meint­li­che mora­li­sche Schwä­che ihrer Gegner her­aus­stell­ten, genie­ßen es liber­täre Auto­ri­täre, die Bigot­te­rie ihrer Kritiker:innen aufzuspießen.“

So schreibt es das AutorIn-Duo in der Ein­lei­tung zu seinem Buch, das alsdann in acht Kapi­teln diese These – genauer: die psycho-sozio­lo­gi­sche Beob­ach­tung – konkret beglau­bigt, nicht zuletzt anhand zahl­rei­cher Inter­views mit Men­schen aus der soge­nann­ten Wut­bür­ger- und Quer­den­ker-Szene. Wohl­tu­end frei von mora­li­sie­ren­dem Tremolo wird hier ein Typus beschrie­ben, wie er in den klas­si­schen Texten der Kri­ti­schen Theorie und deren dama­li­gen Unter­su­chun­gen über den „auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter“ kaum je vorkam. Das ist erhel­lend und plau­si­bel, mar­kiert aber gleich­zei­tig ein emi­nen­tes Struk­tur­pro­blem. Wie nämlich kann man/​frau darüber ver­dutzt sein, dass Auto­ri­tä­res nicht immer zwangs­läu­fig „rechts“ ist? Und so aus­führ­lich hier der aggres­sive Ich-Kult und der jeg­li­che gesell­schaft­li­che Mäßi­gung und Soli­da­ri­tät auf­kün­di­gende Habitus dieses Milieus ana­ly­siert wird – ist das alles tat­säch­lich „neu“?

Schon die Erin­ne­rung an sei­ner­zeit beliebte Sprüche wie „High sein/​ Frei sein/​ Terror muss dabei sein“ oder den popu­lä­ren Slogan „Keine Macht für niemand“ hätte genügt, um die diese These nach­hal­tig zu erschüt­tern. Auch wenn Carolin Amlin­ger Jahr­gang 1984 ist und Oliver Nachtwey 1975 geboren wurde (der Autor dieser Zeilen kam 1970 zur Welt) – es ist zumut­bar, dass man auch von Ent­wick­lun­gen und Phä­no­me­nen Kennt­nis besitzt, die vor der eigenen Geburt bzw. der intel­lek­tu­el­len Bewusst­wer­dung datieren.

Es irri­tiert, dass Amlin­ger und Nachtwey kon­se­quent aus­blen­den, was ihrer „Neu­ig­keits-Dia­gnose“ wider­spre­chen würde. Die Unter­su­chun­gen von Hork­hei­mer /​ Adorno zum auto­ri­tä­ren Cha­rak­ter und ihre „Dia­lek­tik der Auf­klä­rung“ – eine Bibel der 68er-Bewe­gung – scheint noch heute der unhin­ter­frag­bare Bil­dungs­ho­ri­zont der Ver­fas­ser zu sein. Ließe das womög­lich auch Rück­schlüsse auf den aka­de­mi­schen Betrieb zu, in dem bis heute wich­tige AutorIn­nen keine Rolle spielen, deren Bücher eben keine Refe­renz­texte gewor­den sind?

Obwohl die Lite­ra­tur­liste am Ende dieses äußerst lesbar und fluide geschrie­be­nen Buchs nicht weniger als 38 Seiten umfasst, sucht man all die fol­gen­den Namen dort ver­ge­bens: Hannah Arendt, Raymond Aron, Daniel Bell, Ralph Dah­ren­dorf, Joachim Fest, André Glucks­mann, Václav Havel, Jeanne Hersch, Karl Jaspers, Richard (nicht Leo) Löwen­thal, Ludwig (nicht Herbert) Marcuse, Odo Mar­quard, Alice Rühle-Gerstel – eine linke Frau­en­recht­le­rin und frühe Kri­ti­ke­rin kom­mu­nis­ti­schen Auto­ri­ta­ris­mus –, Manès Sperber, Dolf Stern­ber­ger. Man ver­misst eine ganze Denk­tra­di­tion anti­to­ta­li­tä­rer Theorie und Kritik. Das fest­zu­stel­len ist keine wohl­feile Krit­te­lei, sondern betrifft den Kern dieses Buches. Das ego­ma­ni­sche Frei­heits-Miss­ver­ständ­nis, das den ver­meint­lich neuen „liber­tä­ren Auto­ri­tä­ren“ hier völlig zu Recht beschei­nigt wird – es ist ja bereits vor Jahr­zehn­ten von diesen Autor/​innen genau und en détail seziert worden. Dies übri­gens nicht ohne den beglei­ten­den Hohn vieler dama­li­ger „Ador­ni­ten“, die – Stich­wort „Es gibt kein wahres Leben im Fal­schen“ – jeg­li­che Refle­xion über die not­wen­dige, stets fragile Balance zwi­schen indi­vi­du­el­ler Frei­heit und insti­tu­tio­nell garan­tier­ter Mäßi­gung für einen beson­ders heuch­le­ri­schen Buden­zau­ber des „Estab­lish­ments“ und des „Systems“ hielten. Kein Zufall, dass das Schla­ge­tot-Wort vom ver­meint­lich dauer-repres­si­ven „System“ nun in der Quer­den­ker- und Quer­front-Szene erneut en vogue ist, inklu­sive eines zuvor haupt­säch­lich beim links­li­be­ra­len Kaba­rett- und Stadt­thea­ter-Publi­kum belieb­ten Spotts über den „FDGO-Staat“, in dem die frei­heit­lich-demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung gestern wie heute ver­ächt­lich gemacht wird.  Durch­aus fatal, dass eine anti­to­ta­li­tär linke bis kon­ser­va­tiv-libe­rale Tra­di­tion pro­fun­den Nach­den­kens über die inhä­rente Janus­köp­fig­keit der Frei­heit in Deutsch­land so wenig gesell­schaft­li­che Wurzeln geschla­gen hat und im uni­ver­si­tä­ren Diskurs allen­falls am Rande wahr­ge­nom­men wird.

Man muss Carolin Amlin­ger und Oliver Nachtwey ent­schie­den wider­spre­chen, wenn sie zu ihrem derart aus­führ­lich umkreis­ten Refe­renz-Objekt schrei­ben: „Die klas­si­sche Kri­ti­sche Theorie ent­stand im Ange­sicht des Tota­li­ta­ris­mus.“ Schon der Begriff „Tota­li­ta­ris­mus“ war vielen Ver­tre­tern der „Frank­fur­ter Schule“ suspekt. Zahl­rei­che ihrer Anhän­ger gingen dann über die Jahr­zehnte hinweg mit der These hau­sie­ren, die Tota­li­ta­ris­mus-Theorie – obwohl doch vor allem von jüdi­schen Emi­gran­ten ent­wi­ckelt – sei nichts als ein het­ze­ri­sches Kind des Kalten Krieges und vor allem dazu angetan, „die Ver­bre­chen des Faschis­mus zu relativieren“.

In einem Brief an Herbert Marcuse ver­or­tet Theodor Adorno im Sommer 1969 Hannah Arendt gar bei der „Rechten“. Arendts „Ursprünge des Tota­li­ta­ris­mus“ fanden in Deutsch­land ein empö­rend spätes Echo. Die Kennt­nis des öst­li­chen Tota­li­ta­ris­mus ist bis heute allen­falls löchrig vor­han­den; die ein­drück­li­chen Erfah­rungs­be­richte der Dis­si­den­ten von damals spielen kaum eine Rolle. Wie anders wäre zu erklä­ren, dass Amlin­ger und Nachtwey in ihrem Buch schrei­ben: „Als der sozia­lis­ti­sche Ost­block ab 1989 zusam­men­brach, ver­engte sich der uto­pi­sche Raum voll­ends. Mit den sozia­lis­ti­schen Utopien verlor ein Teil des intel­lek­tu­el­len Pro­tests seine nor­ma­ti­ven Maß­stäbe. Ideale wie Frei­heit, Gleich­heit, Gerech­tig­keit büßten zwar nicht an Gel­tungs­kraft ein, sie haben sich aber von ihrer ‚Zukunfts­ori­en­tie­rung‘ ent­kop­pelt.“ Man reibt sich die Augen: mit dem Zusam­men­bruch des sowje­ti­schen Herr­schafts­sys­tems ist die sozia­lis­ti­sche Utopie ver­lo­ren­ge­gan­gen? Bei allem Respekt: Wie ent­kop­pelt von geschicht­li­chem Basis­wis­sen muss man sein, um so etwas drucken zu lassen?

Auf dieser fal­schen Prä­misse auf­bau­end, wird dann ein schie­fes argu­men­ta­ti­ves Gerüst gezim­mert: Das Frei­heits­ver­spre­chen der west­li­chen Post­mo­derne sei nicht gehal­ten worden, die gegen­wär­tige Hyper-Indi­vi­dua­li­sie­rung ende in Ent­täu­schung und Stress, sprich in eben jener „Gekränk­ten Frei­heit“. Von gar nicht so fern grüßen die alten Wort­bla­sen von der „Repres­si­ven Tole­ranz“, dem „Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang“, der „Ver­wal­te­ten Welt“ und des „Ein­di­men­sio­na­len Men­schen“. So plau­si­bel im Detail auch die Beschrei­bung des Miss­ver­hält­nis­ses zwi­schen pla­ka­tiv hoch­ge­hal­te­nen Per­sön­lich­keits­rech­ten und real bestehen­den, sich mit­un­ter sogar ver­schär­fen­den sozia­len Zwängen auch ist – was, wenn die Ent­täu­schung darüber nicht auch ein typi­sches Privilegierten-„Mimimi“ ent­täusch­ter West­le­rIn­nen wäre? Mög­li­cher­weise ver­zerrt die bis heute andau­ernde Unkennt­nis mör­de­ri­scher Gewalt­struk­tu­ren anderswo den Blick auf hiesige Pro­bleme. Dabei leidet der über­wie­gende Teil der Mensch­heit kei­nes­wegs unter „Kon­sum­ter­ror“, sondern unter realer Armut und dem realen, poli­ti­schen Terror, den die unzäh­li­gen Klone aus George Orwells „1984“ ausüben. Es heißt nicht die unein­ge­lös­ten Ver­spre­chen der libe­ra­len Demo­kra­tie schön­zu­re­den, wenn man auf dem fun­da­men­ta­len Unter­schied zwi­schen einer freien Gesell­schaft und auto­ri­tä­rer Herr­schaft beharrt. Die Sehn­sucht nach der wider­spruchs­freien Frei­heit und Gleich­heit mutet nar­ziss­tisch an. Da halte ich es lieber mit einem anderen Hit der sech­zi­ger Jahre, in dem es ver­nehm­bar für alle Erwach­se­nen hieß: „I never pro­mi­sed you a rose garden.“

Was die beiden AutorIn­nen vor­schla­gen, um die vom Ver­spre­chen der Frei­heit „Gekränk­ten“ zurück­zu­ho­len, rekur­riert auf den Gedan­ken gesell­schaft­li­cher Ver­pflich­tung und Ver­flech­tung. Das ist in den meisten Fällen plau­si­bel und wurde von der Reihe oben­ge­nann­ter AutorIn­nen bereits zu einer Zeit ver­tre­ten, als sich „Gekränkte“ noch als „genuin links“ emp­fan­den. Viel­leicht wäre es endlich an der Zeit, die Per­spek­tive zu weiten und ange­sichts der realen, welt­wei­ten Schre­cken zu dem zu finden, was André Glucks­mann einst ange­mahnt hatte, ein Wort des tsche­chi­schen Husserl-Schü­lers Jan Patočka auf­grei­fend, der 1977 sein Enga­ge­ment für die Grün­dung der Oppo­si­ti­ons­be­we­gung „Charta 77“ mit dem Leben bezahlte: „Eine Soli­da­ri­tät der Erschüt­ter­ten“. So manch weh­lei­dig hiesige Klagen würden sich dann wohl von selbst erledigen.


Carolin Amlinger/​ Oliver Nachtwey: Gekränkte Frei­heit. Aspekte des Liber­tä­ren Auto­ri­ta­ris­mus. Suhr­kamp Verlag, Berlin 2022, 478 Seiten.

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