„Transhumanismus“ als Verschwörungserzählung
„Transhumanismus“ ist auch in rechtspopulistischen und „Alternativmedien“ ein Thema. Als Zerrbild einer notwendigen Debatte über Technologisierung und die Veränderung menschlicher Körper dient er als Vehikel zur Beschneidung individueller Rechte zugunsten kollektivistischer Programme – und verbindet dabei antidemokratische Diskurse
Auch radikal-systemkritische Gegenbewegungen haben ihre Moden. Oft äußern sie sich in Form von negativen Abgrenzungsnarrativen, mit deren Hilfe der gemeinsame Gegner in Gestalt der liberalen Demokratie, ihrer Institutionen und ExponentInnen identifiziert wird. Der abwertend konnotierte Begriff des „Transhumanismus“ hat es als derartiges negatives Narrativ mittlerweile große Verbreitung gefunden. Was aber ist damit gemeint? „Transhumanismus“ in diesem Sinne steht als diffuse Sammelbezeichnung für alle möglichen Arten einer unterstellten technisch-autoritativ vorangetriebenen Entmenschlichung, durchgesetzt von globalen Eliten. Zuletzt gab vor allem die Corona-Impfung der Verschwörungserzählung von einer angeblich genetisch zwangsweise manipulierten und somit „transhumanisierten“ Menschheit Auftrieb.
Das unter Verschwörungsgläubigen populäre Portal Apolut sieht in dieser vermeintlichen „transhumanistischen“ Agenda gar einen Plan zur Dezimierung der Menschheit, zum Genozid, der auf das Weltwirtschaftsforum um Klaus Schwab zurückgehe.[1] Speziell der Kampf gegen Antisemitismus werde zur Verdeckung dieses Programms benutzt, konstatiert der Autor Rüdiger Lenz: „Auch das soll die Antisemitismus-Falle unsichtbar machen, nämlich die Taten des Transhumanismus, die gerade laufen. Diese werden schlimmer und gewaltiger ausfallen, als die Taten durch den ersten industriellen Genozid an den Juden und unwertem Leben durch Nazideutschland. Jetzt haben wir den womöglich zweiten industriellen Mord, der diesmal überall in der Menschheit via industrieller Medizin stattfindet.“[2]
Die einende Wirkung von Abgrenzungsbegriffen
Wenngleich nicht jeder einschlägige Beitrag mit der Relativierung des Holocausts aufwartet, bleibt doch festzuhalten, dass die Verschwörungserzählung vom Transhumanismus en vogue ist. Das heterogene Feld radikal-systemkritischer AkteurInnen, das sich vor allem durch die Abarbeitung an diesen gemeinsamen Antipoden der liberalen Demokratie auszeichnet, ist auf solche begrifflichen Marker angewiesen. Darauf, dass Parlamente „Schwatzbuden“ seien, konnten sich ExtremistInnen beispielsweise immer wieder einigen. Übergreifende Abgrenzungsvokabeln gibt es heute viele – von „Lügenpresse“, „Altparteien“, über „Davos-Elite“, „Mainstream“ oder eben „Transhumanismus“ – und sie sind stets eine Voraussetzung für Allianzen über ideologische Widersprüche hinweg. Sie führen Teilmengen zusammen.[3] Geht mit der repräsentativen Nennung des jeweiligen Abgrenzungsbegriffs ein gemeinsamer, größerer Vorstellungshorizont der RezipientInnen einher, spricht man von einem Narrativ – je breiter ankoppelbar, desto wirkmächtiger.
Die Redeweise vom „Transhumanismus“ findet sich dementsprechend auf „Alternativmedien“, integriert in verschwörungstheoretische Erzählungen, in esoterisch-anthroposophischen Ansätzen sowie im Ideologieapparat rechtsradikalen sowie religiös-fundamentalistischen Denkens. Ein idealtypisches Beispiel liefert das Online-TV-Portal Auf1.TV. Dort wird in einem programmatischen Video die folgende, kaum steigerungsfähige Feststellung getroffen: „Die Ideologie des Transhumanismus schickt sich an, die Spezies Mensch auszulöschen.“ Die „Gobalisten und Tranhumanisten“, so heißt es weiter, führten „einen Krieg, wie er in der gesamten Geschichte der Menschheit noch nie stattgefunden hat. Ein Krieg nämlich gegen den Menschen an sich. Er soll genverändert, adaptiert, mit Nanotechnologie durchsetzt und vom Computer aus gesteuert werden. Es ist ein allumfassender Kampf, an dessen Ende entweder die Menschheit überlebt oder für immer untergeht.“[4] Der Videobeitrag des österreichischen „Alternativmediums“ schmeißt alles Mögliche in einen Topf, von der Impfung bis zur digitalen Überwachung – verbindendes Element ist aber die Diagnose von einer technisch betriebenen Politik gegen die Mehrheitsbevölkerung. Dieses Programm solle einer kleinen Elite Macht und Geld sichern, meint Auf1.TV. Garniert wird das Ganze mit der in diese Erzählung passenden Falschbehauptung, es habe in Europa Hundertausende Impftote gegeben.[5]
Die noch nicht durch eine Kopplung des Begriffs an verschwörungstheoretische Szenarien geprägte Debatte ist vielschichtig. Es geht um Potentiale der Lebensverlängerung, um ethische Fragen des Eingriffs in den Körper und um das Menschenbild an sich.“
Die Debatte über den Begriff „Transhumanismus“ findet sich nicht nur in „Alternativmedien“. Es gibt auch in der allgemeinen philosophischen Diskussion FürsprecherInnen und KritikerInnen sogenannter „transhumanistischer“ Konzepte, worunter letztlich sehr viel verstanden werden kann, etwa die bloße Nutzung von Technik am menschlichen Körper, aber auch die (dann oft „posthumanistisch“ genannte) Annahme, dass klassische Konzepte vom Menschen im Verhältnis zu seiner Umwelt gänzlich verfehlt seien und überwunden werden sollten. Die eigentliche, noch nicht durch eine Kopplung des Begriffs an verschwörungstheoretische Szenarien geprägte Debatte ist vielschichtig. Es geht um Potentiale der Lebensverlängerung, um ethische Fragen des Eingriffs in den Körper und um das Menschenbild an sich.
Wer dazu zum Beispiel Literatur von Francis Fukuyama[6] oder Yuval Noah Harari[7] liest, wird von diesen sachorientierten Autoren auch mit Demokratieproblemen in der Folge von Veränderungen des menschlichen Körpers konfrontiert. Kern der Problematik: Die Grundwerte der menschlichen Gleichheit und der Willensfreiheit geraten unter Druck, wenn die Existenz einer „genetischen Superklasse“[8] im Raum steht. Philosophische „TranshumanistInnen“ selbst argumentieren dementsprechend oft abwägender, als man es unter dem Schlagwort erwarten könnte.[9] Gleichwohl bietet eine Zielsetzung „hin zum Übermenschen, zum Posthumanen“ und zur „menschliche[n] Selbstüberwindung“[10] argumentative Angriffspunkte vielfältiger Art.
Kritik an liberalen Grundwerten
Um Differenzierung und argumentative Auseinandersetzung geht es den verschiedenen AkteurInnen auf „Alternativmedien“ jedoch selten. Stattdessen lassen sie im Begriff „Transhumanismus“ unterschiedliche ressentimentgeladene oder verschwörungsideologische Welterklärungen zusammenlaufen. Die Warnung vor dem angeblichen „globalistischen“ Plan vom „Transhumanismus“ bedient verschiedene Stränge der ideologischen Kritik an liberalen Grundwerten und mündet nicht selten in einer Widerstandsrhetorik.[11] Auch im genannten, einer Predigt gleichenden Auf1-Video wird prophezeit, dass, wenn die Menschen keinen „Widerstand mobilisieren“ könnten, sie „im Batteriefeld der Matrix“ erwachten.[12]
Die genannten Portale Apolut und Auf1 sind auch zentrale Verbreiter prorussischer Positionen im deutschsprachigen Raum. Passend dazu nimmt das Zerrbild von der angeblichen „transhumanistischen“ Agenda des Westens in der Propaganda des Putin-Regimes einen prominenten Platz ein. Auch der oft wirr polemisierende antiwestliche „Philosoph“ und Imperialismusapologet Aleksandr Dugin oder Wassilij A. Schipkow, laut Autoreninformation „Direktor des Forschungszentrums ‚Russische Expertenschule‘“, benutzen den „Transhumanismus“-Begriff, um damit sexuelle Minderheiten zu diffamieren und Säkularisierung sowie Enttraditionalisierung als Machwerk des Bösen darzustellen.[13] Dugin geht noch weiter, er sieht den Transhumanismus explizit als Idee des Teufels.[14] Hierzulande werden seine Schriften u.a. durch das rechtsextreme Compact-Magazin verbreitet,[15] dessen ExponentInnen auch bei Auf1 auftreten.[16]
Etwas weniger direkt und rabiat, aber in der Zielrichtung letztlich ähnlich, argumentieren häufig christliche FundamentalistInnen im ostmittleren und westlichen Europa.[17] Dafür steht etwa Grégor Puppincks Buch „Der denaturierte Mensch und seine Rechte“.[18] Es geht gegen die Rechte von Homosexuellen, Frauen oder Transpersonen. Die angestrebte theokratische Ordnung versteckt sich bei Puppinck hinter dem Begriff der „unveränderlichen Humanität“. In äußerst rechten Think-Tanks, wie zum Beispiel Viktor Orbáns ungarischem Propaganda-Institut Mathias-Corvinus-Collegium,[19] gilt dementsprechend das Abtreibungsrecht als Ausdruck eines abzulehnenden Transhumanismus.[20]
Es gibt auch eine positive Kehrseite des Abgrenzungsbegriffs „Transhumanismus“. Den angeblichen Unterdrückungs- und Cyborgisierungsabsichten der vermeintlichen „globalistischen Elite“ hält Auf1 eine romantisierte Vorstellung der Natur entgegen.“
Auch Literatur, die den angeblich im Westen heraufziehenden diktatorischen Überwachungsstaat thematisiert, und damit für verschiedene ideologische Spielarten der radikalen Systemkritik Anknüpfungspunkte bietet, benutzt das Abgrenzungsnarrativ vom „Trans-“ bzw. „Posthumanismus“. Man findet es etwa in Michel Onfrays „Theorie der Diktatur“,[21] zu der die Orbán-Vertraute Mária Schmidt das Vorwort beigesteuert hat. Zuletzt sind es esoterisch-anthroposophische, emanzipatorisch daherkommende Ansätze, die den „Transhumanismus“ als Kernelement diktatorischer Tendenzen brandmarken.[22]
instrumentelle Debatten
Zusammen bilden die skizzierten (Anti-)Ideologien ein breites Feld, das Anknüpfungspunkte für unterschiedlichste UnterstützerInnengruppen bereithält. In der Realität der „Alternativmedien“ äußert sich diese Allianz zumeist in einer verschwörungsideologischen und letztlich postfaktischen Verwendung des „Transhumanismus“ als Abgrenzungsnarrativ. Aber es gibt auch eine positive Kehrseite. Den angeblichen Unterdrückungs- und Cyborgisierungsabsichten der vermeintlichen „globalistischen Elite“ hält man bei Auf1 eine romantisierte Vorstellung der Natur entgegen. Die Agitation wird häufig sogar ergänzt durch eine positive, quasi-religiöse Heilserwartung, in der Naturalismus und eine kulturalistische Widerstandsrhetorik gegen die moderne Gesellschaft verschmelzen: „Der erwachte Mensch ist ein bewusster und glücklicher, nützlicher Teil der Natur und kein Gott, kein Despot, kein Herrscher, der sich die Erde unterwerfen möchte, sondern der im heiligen Einklang mit der Natur und nach ihrem Vorbild leben möchte. … Der Wald ist Heiler, die Natur ist Vorbild, die Erde ist Mutter, das Land ist der Vater. … Wir werden nicht zulassen, dass wir untergehen.“ Und schließlich: „Der Faktor Mensch wird die Menschenfeinde in ihrem Zerstörungswerk aufhalten.“[23]
Die „alternativmedialen“ Beiträge zum „Transhumanismus“ zeigen,[24] wie weit die Bindungswirkung dieses ideologischen Abgrenzungsnarrativs reicht: von der Friedenspädagogik bis hin zur völkisch-aggressiven, imperialistischen und theokratischen Agenda. Dass nicht nur das Putin-Régime, sondern auch rechte politische Kräfte innerhalb der EU hierin einen Anknüpfungspunkt für breitere Unterstützung sehen, ist mehr als ein Krisenindiz. Denn das Zerrbild vom „Transhumanismus“ dient der Beschneidung individueller Rechte zugunsten kollektivistischer Programme. Eine an sich legitime und notwendige Debatte über die Folgen der Veränderung von Körpern und wachsenden technologischen Möglichkeiten wird in „Alternativmedien“ und in antidemokratischen Ideologien durch machtdiskursive Begriffsarbeit zum Kampfinstrument umfunktioniert. Die AkteurInnen sind sich der Tatsache bewusst, dass die liberale Demokratie über den Komplex „Transhumanismus“ oder auch über die Rolle des Weltwirtschaftsforums oder der Weltgesundheitsorganisation diskutieren muss – dabei aber wegen der zunehmenden Verschiebung des Begriffs immer in Gefahr gerät, eine antidemokratische Erzählung zu stützen. Dies ist ein typisches Grundproblem freiheitlicher Ordnungen. Was man dagegen tun kann? Menschen zur Reflexion über instrumentelle Verwendungsweisen aktueller Debatten zu befähigen.
Fußnoten
[1] Hier geht die verschwörungsideologische Lesart des „Transhumanismus“ beinahe nahtlos in die Verschwörungserzählung des „Great Reset“ über, also eines angeblich geplanten Neustarts der Welt nach bzw. durch die Corona-Pandemie im Interesse einiger Weniger.
[2] Rüdiger Lenz: Die Antisemitismus-Falle, Apolut.net, 10.08.2022, abrufbar unter https://apolut.net/die-antisemitismus-falle-von-ruediger-lenz/.
[3] Seien es Gruppen ohne positive Agenda, oder aber AnhängerInnen verschiedenster Gegenentwürfe: von der Idee einer radikalen Volksdemokratie über die einer Führerdiktatur bis hin zu der einer theokratischen Ordnung
[4] https://auf1.tv/stefan-magnet-auf1/transhumanismus-das-ende-der-menschheit/ [ab 0:05].
[5] AaO, ab 4:20.
[6] Our Posthuman Future. Consequences of the Biotechnology Revolution, New York 2002.
[7] Homo Deus. Eine Geschichte von morgen, München 2017.
[8] Fukuyama (aaO [Fn. 6]: 157f.) spricht von „genetic overclass“ und „new genetic classes“.
[9] Z.B. Stefan Lorenz Sorgner: Transhumanismus. „Die gefährlichste Idee der Welt“!?, Freiburg/Basel/Wien 2016.
[10] So Stefan Lorenz Sorgner: Übermensch. Plädoyer für einen Nietzscheanischen Transhumanismus, Basel 2019, S.106.
[11] Dementsprechend heißt es in der Videobeschreibung bei Auf1 [Fn. 4]: „Die erwachende Menschheit, die sich zum wahren Humanismus aus Fleisch und Blut bekennt, wird den Trans-Humanisten Einhalt gebieten.“
[12] AaO [Fn. 4], ab min. 31:50.
[13] Vgl. deren Beiträge in Wassilij A. Schipkow: Nach dem Menschen. Ideologie und Propaganda des Transhumanismus in der Postmoderne, Wachtendonk 2021.
[14] AaO, S. 136.
[15] Z.B. im Compact-Spezial Nr. 32: Das große Erwachen. Der spirituelle Kampf gegen den Great Reset.
[16] Z.B. Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer und Compact-TV-Chef Martin Müller-Mertens. Letzterer ist der neue Deutschland-Korrespondent von Auf1 (https://auf1.tv/nachrichten-auf1/auf1-studio-berlin-martin-mueller-mertens-wird-hauptstadt-korrespondent, Video v. 13.07.2022).
[17] Vgl. dazu Markus Linden: „Transhumanismus“, christlicher Fundamentalismus und Verschwörungstheorien (2022), in: Dialog Forum, 03.08.2022, abrufbar unter https://forumdialog.eu/2022/08/03/transhumanismus-christlicher-fundamentalismus-und-verschwoerungstheorien/ [06.08.2022].
[18] Heiligenkreuz 2020 (französ. 2018).
[19] Dazu und zu anderen Beispielen (z.B. der einflussreichen polnischen Juristenvereinigung Ordo Iuris) vgl. Markus Linden: Das Heerlager der Scheinheiligen. Der neue christliche Fundamentalismus in Rechtslehre, Publizistik und Politik, in: Kritische Justiz, 55. Jg., Heft 2/2022, S. 191–206.
[20] Vgl. das folgende Interview mit dem MCC-Gastwissenschaftler Miklos Lukacs, geführt durch den MCC-Wissenschaftler Veress Csongor Balázs: „Human beings of the 21st century: objects or subjects?“ (12. April 2022), https://corvinak.hu/en/velemeny/2022/04/12/human-beings-of-the-21st-century-objects-or-subjects.
[21] Dresden 2021 (französ. 2019), S. 185.
[22] Z.B. Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen, Frankfurt 2022.
[23] AaO [Fn. 4], ab min. 34:28.
[24] Auf dem Portal Rubikon finden sich zahlreiche, tendenziell eher von links kommende Beiträge, während Compact und Auf1 paradigmatisch für die rechte Verwendungsweise stehen. Die Schnittstellen sind jedoch zahlreich, insbesondere in Form der skizzierten Abgrenzung von einer angeblich elitären Agenda der Überwindung des Menschlichen.