Wann gilt ein Recht auf Widerstand?
Nicht erst seit den Corona-Protesten beanspruchen systemoppositionelle Milieus ein Widerstandsrecht. Indem demokratische Institutionen zum Unrechtssystem erklärt werden, wird hieraus ein Widerstandsrecht abgeleitet – nicht zuletzt mit Verweis auf das Grundgesetzt. Micha Brumlik ordnet den Widerstandsbegriff rechtsphilosophisch ein.
Im Januar dieses neuen Jahres fragte die Landeszentrale für politische Bildung in Nordrhein-Westphalen auf ihrer Homepage: „Corona-‚Spaziergänge‘ in NRW: Legitimer Widerstand oder Nährboden für Extremismus?“ Damit übernahm Landeszentrale einen Begriff, der bis dato – nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland – einen in der Geschichte politischer Freiheit herausragenden Stellenwert hatte. Wer würde bei diesem Begriff nicht an die Geschwister Scholl sowie an die Männer und Frauen des 20. Juli denken, wer nicht an die französische Resistance gegen die nationalsozialistische, deutsche Besatzung Frankreichs, an Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, wer nicht an die Resistenzia italienischer Partisanen gegen Mussolinis Gewaltregime?
Indes ist dieser Begriff seit mehreren Jahren – und das nicht nur in Deutschland – von weltanschaulich geprägten Impfgegnern und Rechtsextremisten gekapert worden, die sich damit ebenso schmücken wie mit Imitationen des nationalsozialistischen Judensterns, um sich als stigmatisierte Opfer zu stilisieren. So rief etwa Björn Höcke schon 2016 in Erfurt Polizisten zum Widerstand auf.
Doch worum geht es bei diesem Begriff wirklich? Das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ weist unter dem Stichwort „Widerstandsrecht“ fünf eng bedruckte Kolumnen auf: Verweise, die von antiken Wurzeln – etwa bei Cicero – über das Mittelalter und die frühe Neuzeit bis ins 19. und 20.Jahrhundert reichen und auf diese Schlussfolgerung hinauslaufen: „Die moderne Erfahrung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft scheint die Notwendigkeit überpositiver Normen jedoch erneut zu bestätigen.“ D.h., dass positives Recht, vom Staat erlassene Gesetze in Ausnahmefällen nicht befolgt werden müssen.
Indes: Die klassische Position in dieser Frage wurde bereits im 18. Jahrhundert ausgerechnet von Immanuel Kant, dem Philosophen der Aufklärung und Moral, eingenommen. So lehnte Kant ein Recht auf Widerstand sowohl aus politischen, vor allem aber aus sinnlogischen Gründen ab. Entsprechend heißt es in der „Rechtslehre“ der „Metaphysik der Sitten“:
„Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staates giebt es keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich.“ [1]
Ein Recht auf Widerstand gegen die gesetzgebende Gewalt würde nach Kant nicht nur auf einen Selbstwiderspruch bzw. auf einen regressus ad infinitum hinauslaufen, sondern zudem darauf, aus einem einmal erreichten Rechtszustand wieder in einen Naturzustand zurückzufallen.[2] Widerstand ist schon alleine deswegen verboten, „weil doch irgend eine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige Verfassung besser ist als gar keine.“ So jedenfalls Kant in seiner Schrift zum ewigen Frieden.[3] Doch ist dies nicht das letzte Wort in dieser, Kant betreffenden Frage. Tatsächlich widerspricht die Philosophin Ingeborg Maus in ihrer Studie „Zur Aufklärung der Demokratietheorie“[4] mit Gründen der Meinung, dass Kant jeden Widerstand gegen die Staatsgewalt abgelehnt habe. So kann sie zeigen, dass die Verweigerung des Gehorsams wider die Exekutive sogar rechtens sein kann – und bietet dazu ein Zitat aus Kants Vorarbeiten „Zum ewigen Frieden“ auf:
„Der republicanism ist also das Recht des Volkes dem Minister oder Magistrat den Gehorsam zu verweigern, wenn er glaubt, es sey nicht nach Gesetzen mit ihm verfahren worden…“[5]
Auf jeden Fall: Spätestens seit Kant ist die Frage, ob es sinnvollerweise so etwas wie ein überpositives Recht geben kann, grundsätzliches Thema jeder Rechtsphilosophie: „Überpositives Recht“ ist demnach ein Konstrukt, das Hans Kelsen (1881–1973) zurückgewiesen hat, während Gustav Radbruch (1878–1949) eine scharfe Unterscheidung zwischen gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht postulierte.
Aus alledem – vor allem aus den Erfahrungen der NS-Zeit – hat auch die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland gelernt, weswegen im Artikel 20 der deutschen Verfassung, des Grundgesetzes, zu lesen ist:
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Entscheidend ist im hier diskutierten Zusammenhang Absatz 4, der ausdrücklich ein Recht zum Widerstand einräumt – allerdings unter zwei Bedingungen: dass nachweislich die verfassungsmäßige Ordnung beseitigt werden soll, sowie: dass alle bisherigen gesetzlichen Mittel tatsächlich ausgeschöpft sind. Die Bundeszentrale für politische Bildung kommentiert diesen Absatz von Artikel 20 des Grundgesetzes so:
„In der Geschichte des Widerstandsrechts haben sich bestimmte Kriterien für einen legitimen Widerstand gegen ein Unrechtssystem herauskristallisiert, nämlich: 1) Es muss sich um einen Akt sozialer Notwehr gegenüber einer verbrecherischen Obrigkeit, der das Unrecht ‚auf der Stirn geschrieben‘ steht, handeln. Das ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die Staatsmacht fundamentale Grund- und Menschenrechte ungeschützt lässt oder selbst verletzt. Demnach gilt auch, dass ein Gesetz, das in grober Weise gegen die Gerechtigkeit verstößt, (ungültiges) ‚gesetzliches Unrecht‘ ist; ein Gesetz, das Gerechtigkeit gar nicht bezweckt, ist ‚Nichtrecht‘ (so der Rechtsphilosoph und Staatsrechtler Gustav Radbruch). Demgemäß hält auch das Bundesverfassungsgericht ein Widerstandsrecht gegen ein evidentes Unrechtsregime für gegeben, wenn normale Rechtsbehelfe nicht wirksam sind.“
Infrage steht mithin, ob jene – nennen wir sie Impfskeptiker –
- nachweisen können, dass der bundesrepublikanische Staat ein fundamentales Grund- und Menschenrecht ungeschützt lässt (in diesem Falle das Recht auf körperliche Unversehrtheit) und dass
- alle bisherigen Mittel – als da wären: Verfassungsbeschwerden sowie Wahlen von Parlamentariern, die ebenfalls gegen die Impfpflicht sind, – nichts gefruchtet haben.
Gleichwohl sind in rechtsstaatlicher Hinsicht entsprechende Zuwiderhandlungen gegen die körperliche Unversehrtheit durchaus zulässig etwa, wenn es Kraft Gesetzes ermöglicht wird, potentiellen Straftätern zur Tatsachenfeststellung Blutproben zu entnehmen (§ 81a StPO).
Daher: Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Überlegungen sind noch nicht einmal auf Länderebene rechtliche Mittel gegen die verpflichtende Impfung von Teilgruppen – etwa von Beschäftigten im Pflegewesen – eingelegt oder gar richterlich abschlägig entschieden worden. Mithin ist jene Situation, in der sogar das Grundgesetz „Widerstand“ zulässt, noch längst nicht gegeben. Zudem dürfte es – sogar wenn der Bundestag eine allgemeine Impfpflicht verabschiedete – noch Jahre dauern, bis die Klage gegen ein solches Gesetz so oder so vom Bundesverfassungsgericht hingenommen oder für ungültig erklärt worden wäre. Mit anderen Worten: Von „Widerstand“ im genauen Sinne kann bisher und noch lange keine Rede sein. Vielmehr geht es um die eigentümliche Allianz von – wenn man so will – fundamentalistisch gesonnenen Staatsfeindinnen und ‑feinden.
So ist die Szene der Impfgegner und Querdenker – auch dort, wo sie nicht der extremen Rechten zuzurechnen ist – keineswegs frei von Antisemitismus. Der Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, berichtet etwa: „In ein Seminar mit 30 von mir geschätzten Teilnehmern kam ein Student sichtlich aufgebracht. Ihn störte die Uni-Regel mit zwei Bändchen, einem für 3G und einem weiteren länger gültigen für Studierende, die freiwillig mehr Angaben machen. Das Bändchen sei ‚wie der Judenstern in der Nazizeit‘“. Andere – nicht zuletzt junge, gebildete Frauen – verweigerten in den letzten Monaten ebenfalls die Impfung und verglichen sich daher sogar mit Anne Frank oder Sophie Scholl.
Nun hat die empirische Forschung zum Geschichtsbewusstein gezeigt, dass die in einer Bevölkerung vorhandene Erinnerung an historische Ereignisse in dem Ausmaß schwindet, in dem das Ereignis weiter zurück liegt. So auch die deutsche Erinnerung an Nationalsozialismus und Judenmord, die ohnehin frühestens mit dem Frankfurter Auschwitzprozess in den 1960er Jahren begann. Seither sind bald sechzig Jahre vergangen und der Nationalsozialismus mitsamt seinem Judenhass inzwischen zu einer Chiffre für alle Übel der Welt geworden. Daher ernennt sich – wer auch immer gegen ein Übel wähnt, protestieren zu müssen – damit auch zur Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus. Das hat eine Studie des Politologen Oliver Nachtwey gezeigt: „Quellen des ‚Querdenkertums‘. Eine politische Soziologie der Corona-Proteste in Baden-Württemberg“. Dieser nicht streng repräsentativen, aber auf einer zureichenden Fülle von Interviews beruhenden Studie ist zu entnehmen, dass die typischen Querdenkerinnen und Querdenker gerade keine abgehängten, politisch eher rechts eingestellten Provinzler sind. Im Gegenteil: Die Studie ergab, dass es sich um den Idealtyp der grünen Wählerin handelte – in aller Regel um eher weibliche, höher gebildete, der gehobenen Mittelschicht zugehörige Personen.
Damit hat Coronakrise nicht nur Folgen für überlastete Pflege- und Gesundheitsinstitutionen, sondern auch für das gesamtgesellschaftliche historische Gedächtnis. Denn: Tatsächlich schließen sich Verschwörungstheorien stets solche Personen an, die weder Willens noch in der Lage sind, strukturell zu denken, sondern anstattdessen auf der Suche nach Akteuren und ihnen persönlich zurechenbaren Taten sind. Offensichtlich sind viele Angehörige der alternativen und anthroposophischen Milieus weder Willens noch in der Lage, Umwelt- und Gesundheitskrise strukturell zu beurteilen. Hinzu kommt ein in diesen Milieus seit jeher weit verbreitetes Unbehagen, nicht an einzelnen staatlichen Gesetzen und Maßnahmen, sondern am Staat selbst als Inbegriff von Macht und Unterdrückung. Und so berühren sich am Ende dann doch Rechte und Linke: Während jene den bundesrepublikanischen Staat und sein Recht im Geiste einer völkischen Gemeinschaftsvorstellung überwinden wollen, sehen diese in einem geradezu anarchistisch gesonnenen Individualismus im Staat nichts anderes als eine Unterdrückungsmaschine. Hier radikaler Individualismus, dort völkische Gemeinschaft – in diesem Falle trifft es eben doch zu: Les extrêmes se touchent... Nicht trotz, sondern wegen fehlender Gemeinsamkeiten. Gegen diesen – den demokratischen Rechtsstaat – so das neue, Rechte wie Linke vereinende fundamentalistische Glaubensbekenntnis – ist „Widerstand“ legitim.
[1] I.Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, A 176
[2] Vrgl. G.Geismann, Kant und kein Ende, Band 3, Würzburg 2012, S.138 f.
[3] I.Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders. AA VIII, 373
[4] Ffm.1992
[5] Ebd. S. 98