Autokorsos: Antidiskriminierung als Deckmantel für prorussische Demonstrationen
Vor zwei Wochen fand das erste prorussische Autorkorso in Berlin statt – ausgerechnet an dem Tag, an dem die Massaker von Butscha bekannt wurden. Im Interview berichtet Sergej Prokopkin, wie die Telegramgruppen hinter den Korsos funktionieren und wie dort antiukrainische Stimmung angeheizt wird.
Gegneranalyse: Was war die Botschaft der Autokorsos? Ging es um einen Prototest gegen Russophobie und Diskriminierung oder um die Unterstützung des russischen Angriffskriegs und von Präsident Putin?
Sergej Prokopkin: Bereits während der Organisationsphase der Korsos gab es Nachrichten in Telegramgruppen, keine Symbole wie „Z“, „V“, „O“ oder das Sankt-Georgs-Band zu den Korsos mitzubringen. Dies wurde nicht getan, weil es angeblich nicht um den Krieg gehen sollte, sondern weil diese Symbole verboten sind und die Gefahr bestand, dass die Polizei die Demonstration auflöst. Das war bereits ein Indiz für das eigentliche Anliegen. Bei dem Korso in Hannover zum Beispiel wurde auf Telegram dazu aufgefordert, Flaggen der postsowjetischen Nachfolgestaaten mitzubringen, aber nicht der Ukraine, weil es ja nicht um den Krieg gehe. Gleichzeitig sollte die Leute auf jeden Fall Russlandflaggen mitbringen. Die Begründung war: Wir sollten uns für unser Land nicht schämen. Es war also schon in der Vorbereitungsphase klar, wohin der Hase läuft. Das Thema ist einerseits Antidiskriminierung. Gleichzeitig ist dies ein Deckmantel für eine prorussische Demonstration gewesen.
Wie funktionieren diese Telegramgruppen?
Ich kann das an einer Gruppe veranschaulichen, die ich beobachtet habe. Es gibt drei, vier Administrator*innen, die Informationen streuen. Die ändern immer wieder ihre Namen und Bilder, bleiben anonym. Das ist sehr merkwürdig, denn wenn man gegen Diskriminierung kämpft, muss man nicht unbedingt anonym bleiben. Diese Leute geben die Treffpunkte erst kurz vorher z.B. am frühen Morgen des betreffenden Tages bekannt. Und noch etwas: Die Telegramgruppe bleibt erst einmal geschlossen. Das heißt, nur die Administrator*innen können posten und die sonstigen Mitglieder können weder Rückfragen stellen, noch kommentieren oder eigene Beiträge teilen. Die Gruppe wurde bei Gelegenheit für ein oder zwei Stunden für die Mitglieder geöffnet, damit diese sich mit Beiträgen beteiligen können. Danach wird die Gruppe vor allem über Nacht wieder geschlossen.
Was soll dieses Öffnen und Schließen bewirken?
Das geschieht analog zu dem, was in Querdenkengruppen gemacht wird. Einerseits bekommen die Leute die gewünschten Informationen. Gleichzeitig können kritische Stimmen unterdrückt werden. Durch die zeitweise Öffnung wird den Leuten suggeriert, sie könnten sich frei beteiligen. Ich sehe das als eine Masche an.
Eine Masche wofür?
Am Tag der Demonstration wird den Leuten gesagt: sammelt Material, macht Videos von den Gegenprotesten, aber achtet selbst auf die Regeln.
Nach der Demonstration wird die Gruppe wieder aufgemacht und Videos und Fotos von Gegendemonstrant*innen gepostet, die gepöbelt haben, Autos zerkratzt oder mit Eiern beworfen haben. Da fragt man sich erst einmal, wofür?
Dann wird die Gruppe wieder geschlossen und die Stimmung von den Administrator*innen angeheizt. Sie fordern die Leute zum Beispiel auf, Straftaten, die sie mitbekommen haben anzuzeigen. Dann wird die Gruppe geöffnet und ein*e Wortführer*in postet, diese Pöbler*innen seien angeblich Ukrainer*innen, weil sie ukrainische Flaggen dabei hatten. Es wird behauptet, die seien mit Bussen angekarrt worden und vermutlich auch bezahlt.
Die Stimmung kippt jetzt in Richtung „pro Russland“ und „gegen die Ukrainer*innen“. Und schon am zweiten Tag nach der Demonstration ging es nicht mehr um Diskriminierung, sondern um Hass, der geschürt wird. Das geschieht zum Beispiel konkret, wenn Gegendemonstranten herausgepickt und deren Fotos gepostet werden. Bei einigen wird weiter nachgeforscht. Dann folgen Infos über den Job, die Privatadresse oder Fotos von deren Haustürklingel. Die Drohgebärden sind sehr derb und aggressiv.
Was folgt daraus?
Irgendwann jedenfalls ist die Stimmung nicht mehr aufzuhalten. Es folgen Vorschläge, Arbeitsgruppen zu gründen, um sich zu verteidigen. Es wird Unsicherheit geschürt nach dem Motto: „Die Polizei kann uns sowieso nicht helfen. Wir müssen uns selbst schützen und verteidigen. Das ist unser Land.“ Da entstehen dann Ambivalenzen, wenn einerseits von Deutschland als „unserem Land“ gesprochen wird, dass es zu verteidigen gelte, und andererseits Putins Russland unterstützt wird. In diesen Ambivalenzen gibt es sehr viel Raum für unterschiedlichste Ansichten. Nur Widerspruch gab es kaum.
Bleibt all das in der Blase dieser Telegramgruppe?
Die Administrator*innen senden gelegentlich Links z.B. zum Anti-Spiegel, der Russischen Botschaft oder pro-putinistischen bzw. Pro-Kreml-Medien. Mit dabei ist immer wieder auch die Pro-Putin-Unfluencerin Alina Lipp, die wiederum gute Kontakte zu Thomas Röper, dem Macher des Anti-Spiegel, haben soll. Mitunter wurde auch vorgeschlagen, der AfD beizutreten. All dies geschieht unter dem Deckmantel einer Opferhaltung. Es geht hier also auch um eine Täter-Opfer-Umkehr.
Wie groß war die Telegramgruppe?
Als ich die Gruppe verließ, lag sie bei ca. 1.000 Mitgliedern. Die Zahl war später rückläufig. Menschen sind also ausgetreten. Es gibt sicher auch Unsicherheit, ob das vielleicht alles Fake ist und wir hier verladen werden. Nicht alle in der Gruppe springen auf diesen putinistischen Zug auf, sind Putin-Unterstützer. Das sind auch Menschen, die wenig politische Erfahrung haben und vielleicht tatsächlich Angst, oder solche, die nach einem Gemeinschaftsgefühl suchen.
Was macht die Anziehungskraft der Telegramgruppen aus?
Es wird häufig das Narrativ von „Naschi“ verwendet. Das ist Russisch und heißt „die Unsrigen“. Häufig ist die Rede von „Unseren“, die z.B. mit Eiern beworfen worden seien. „Unsere“, das kommt meiner Ansicht nach noch aus der Sowjetzeit. Die Jugendorganisation des Kreml heißt auch „Naschi“. Viele sprechen traditionell von „Naschi“, wenn sie ihre Familie oder Landsleute meinen. In den Telegramgruppen geht es also viel um „wir“ und „die anderen“. Und die Ukrainer*innen sind die „anderen“. Sie werden hier dämonisiert und als gefährlich oder gekauft dargestellt.
Wer steckt hinter diesen Telegramgruppen?
Die Russlanddeutschen galten lange als unpolitisch. Aber die Telegramgruppen hinter den Autokorsos sind sehr gut organisiert. Sie haben offensichtlich viel Erfahrung, wissen, wie man so eine Gruppe moderiert, wie man sich schützt, usw. Das folgt alles einem Muster, das von Querdenkengruppen bekannt ist. Ob die Leute hinter den Protesten über Verbindungen zu Querdenker*innen oder ähnlichen Gruppen verfügen, ist unklar.
Gibt es im Zuge des Krieges nach Deinem Eindruck Diskriminierung von Russischsprachigen?
Meine Einschätzung ist, dass es schon zu verbalen Übergriffen kam, ich habe das auch im Freundeskreis gehört. Oder Angriffe auf russische Läden und die Schule in Marzahn – aber deren mutmaßlich politischer Charakter ist immer noch nicht polizeilich bestätigt. Die Polizei hat für solche Straftaten eine eigene Stelle eingerichtet. Aber aus meiner Warte besteht keine Gefahr für Russ*innen oder diejenige, die als solche hier wahrgenommen werden.
Ein großer Teil der Ukrainerinnen und Ukrainer ist auch russischsprachig.
Ich habe davon gehört, dass auch diese bereits Opfer von Angriffen geworden sind. Es gibt auch das Phänomen des Antislawismus – aber dafür gibt es Antidiskriminierungs- und Opferberatungsstellen und die Polizei, an die man sich jederzeit wenden kann. Man kann Antislawismus an Schulen thematisieren, wenn Kinder betroffen sind. Aber die Telegramgruppen zielen nicht darauf, eine Lösung für das Problem der Diskriminierung zu finden. Stattdessen wird dazu aufgefordert, sich an die russische Botschaft zu wenden, die propagandistisch eine Meldestelle für Diskriminierung eingerichtet hat. Auch hier geht es wieder um „Naschi“, die uns helfen werden.
Es ist die Rede von ca. 3,5 Mio. Russischsprachigen in Deutschland. Wie groß ist die Gruppe derer, die für dieses Anheizen in den Telegramgruppen und eine Pro-Putin-Propaganda empfänglich ist? Wie relevant ist das für diese Bevölkerungsgruppe?
Alle Menschen mit postsowjetischem Background, die ich kenne, sind irgendwie betroffen. Es gibt in jeder Familie irgend einen Onkel, einen Vater oder eine Oma. Aber da würde ich unterscheiden, ob diese Person russisches Fernsehen schaut oder Putin auch in seinen Taten unterstützt. Ist diese Person für oder gegen diesen Krieg? Denn es gibt durchaus Leute, die sagen, ich bin gegen den Krieg, aber Putin ist ein feiner Typ. Und dann gibt es auch diejenigen, die durch den Krieg skeptisch geworden sind. Das war nach der Annexion der Krim noch anders. Aber jetzt nach dem Angriff vor allem auch auf die Westukraine denken einige: da ist etwas nicht in Ordnung. Dann gibt es die Menschen, die den Krieg tatsächlich unterstützen. Und natürlich gibt es unter den Russischsprachigen viele Menschen, die klar gegen den Krieg sind. In meinem Bekanntenkreis sind das vor allem Leute mit einem akademischen Background und die Jüngeren der zweiten Generation, die im Kindesalter nach Deutschland kamen oder hier geboren sind.
Sergej, vielen Dank für das Gespräch.
Sergej Prokopkin ist Jurist und Antidiskriminierungstrainer. Er ist in Russland geboren und aufgewachsen. In Deutschland lebt er bereits seit 20 Jahren.
Interview: Christoph Becker
Transparenzhinweis: Bis Juni 2021 arbeitet Sergej Prokopkin beim Zentrum Liberale Moderne als Mitarbeiter im LibMod-Projekt „o[s]tklick – demokratisch antworten“.