‌„Zer­stö­rung der Ver­nunft durch das Quer­den­ken-Spek­trum“ – Inter­view mit Andreas Speit

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Der Buch­au­tor und Rechts­extre­mis­mus­experte Andreas Speit spricht über Kritik an den Corona-Maß­nah­men, die wach­sende Radi­ka­li­sie­rung der Szene und den anti­mo­der­nen Reflex, der sie eint. Das Inter­view führte Mat­thias Meisner.

Herr Speit, der Mord an einem Kas­sie­rer in einer Tank­stelle in Idar-Ober­stein, Anschläge auf Impf­zen­tren, Mord­dro­hun­gen gegen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker – hat Sie die Radi­ka­li­sie­rung der Coro­na­leug­ner-Bewe­gung überrascht?

Andreas Speit: Nein. Aber mich hat das Tempo über­rascht, mit dem sich Per­so­nen aus dieser Szene in den ver­gan­ge­nen ein­ein­halb Jahren radi­ka­li­siert haben.

In Königs Wus­ter­hau­sen hat vor wenigen Tagen ein Lehrer seine Frau und die gemein­sa­men drei Töchter getötet und dann sich selbst umge­bracht. Der Mann bewegte sich in der „Querdenker“-Szene. Warum driften Men­schen so ab?

Speit: Der Hin­ter­grund für die Tat scheint tat­säch­lich ein gefälsch­ter Impf­pass gewesen zu sein. Der mut­maß­li­che Täter wollte sich einfach nicht impfen lassen. Dieser Wider­stand gegen das Impfen dürfte ein Beschleu­ni­ger der Radi­ka­li­sie­rung sein. Men­schen kri­ti­sie­ren nicht bloß das Impfen, sondern betrach­ten es als ganz tiefen per­sön­li­chen Ein­schnitt als Angriff auf ihren Körper. Sie geraten so in einen Wider­stands­mo­dus, gehen zur ver­meint­lich legi­ti­men Selbst­ver­tei­di­gung über oder, wie in diesem dra­ma­ti­schen Fall sogar zur Selbst­aus­lö­schung. Dieser radi­kale Prozess ist in der Logik ihres Denkens eine fol­ge­rich­tige Kon­se­quenz. Einige Impfskeptiker:innen haben sich nicht radi­ka­li­siert, weil dort Rechts­extreme immer wieder mit­lau­fen konnten. Sie haben sich radi­ka­li­siert, weil sie denken, sie würden in einer Dik­ta­tur leben. Die einen spre­chen von einer „Hygiene-Dik­ta­tur“, die anderen vom „Merkel-Régime“. Manche glauben sogar, dass sie in einer faschis­ti­schen Dik­ta­tur leben.

Wird nach dieser Logik bald auch eine ver­meint­li­che „Olaf-Scholz-Dik­ta­tur“ angeprangert?

Speit: Ich nehme an, dass diese Bewe­gung sehr schnell von einer „Scholz-Dik­ta­tur“ spre­chen wird mit ent­spre­chen­den Pla­ka­ten und Auf­kle­bern. Die neue Bun­des­re­gie­rung erklärte, dass sie zur Bekämp­fung der Pan­de­mie kon­se­quen­ter handeln werde. Und der neue Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl Lau­ter­bach ist in dieser Szene – gelinde gesagt – nicht beliebt. Die Posi­tio­nen und das Per­so­nal werden die Anfein­dun­gen gegen Olaf Scholz und seine Regie­rung stei­gern. Und gerade der Ver­gleich von demo­kra­tisch gewähl­ten Regie­run­gen mit dem Faschis­mus macht einer­seits die Abwe­gig­keit deut­lich. Ande­rer­seits ist er eine Rela­ti­vie­rung des Natio­nal­so­zia­lis­mus und zugleich eine Dif­fa­mie­rung der wirk­li­chen Widerstandskämpfer:innen in der NS-Zeit.

Diese Dis­kurse um Sinn und Zweck der Maß­nah­men gehen längst auch in Wis­sen­schafts­feind­lich­keit über und im schlimms­ten Fall in eine Verschwörungserzählung.“ 

Schon die Maske galt für manche als „Maul­korb“, die Impf­kam­pa­gne sowie eine mög­li­che Impf­pflicht werden noch extre­me­ren Wider­stand hervorrufen?

Speit: Das ist zu befürch­ten. In der Debatte um den Mund­schutz sahen sich Kritiker:innen mundtot gemacht, als freie Bürger:innen in ihren Rechten beschnit­ten. Nun befürch­ten sie, dass ihr Körper ange­grif­fen wird. Diese Dis­kurse um Sinn und Zweck der Maß­nah­men gehen längst auch in Wis­sen­schafts­feind­lich­keit über und im schlimms­ten Fall in eine Verschwörungserzählung.

Die rechts­extreme Szene pro­fi­tiert von der Corona-Pro­test­be­we­gung. Par­al­lel gibt es eine Anfäl­lig­keit der bür­ger­li­chen Mitte für demo­kra­tie­feind­li­che Bestre­bun­gen und ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­sches Gedan­ken­gut. Warum ist die so stark?

Speit: Ein großer Unter­schied zu frü­he­ren Pro­test­be­we­gun­gen etwa gegen Geflüch­tete besteht darin, dass nicht nur die übli­chen Ver­däch­ti­gen auf der Straße sind, sondern beson­ders Men­schen aus der Mitte der Gesell­schaft, die auch einen alter­na­ti­ven Habitus pflegen, grün-links wählten und selbst gegen AKWs oder Rechte pro­tes­tier­ten. Sie kommen aus jener Mit­tel­schicht, die sowohl zu sich selbst als auch zum Staat reflek­tiert und kri­tisch ist. Das ist aber auch eben jene Schicht, meist gebil­det und mit freier gestal­te­ter Arbeits­tak­tung, die staat­li­che Zugriffe in ihrem pri­va­ten und beruf­li­chen Leben kaum erfährt. Diese Leute stehen pau­schal gespro­chen nicht am Band, die Vor­ge­setz­ten und der Staat dik­tie­ren ihnen nicht den Takt ihres Alltags. Diese Erfah­run­gen machen sie aber jetzt. „Die da oben“, heißt es nun. Und: „Wir lassen uns nichts vor­schrei­ben.“ Diese bür­ger­li­che Mitte sieht ihre Vor­rechte beschnit­ten. Hier werden das Tragen einer Maske oder Rei­se­be­schrän­kun­gen zu Grund­rechts­fra­gen erhoben. Ihnen muss ent­geg­net werden: Wer keine Maske tragen will, gefähr­det die kör­per­li­che Unver­sehrt­heit der anderen. Und: Der Bio-Urlaub in der Toskana ist kein Grundrecht.

Ralf Fücks vom Zentrum Libe­rale Moderne beob­ach­tet mit Blick auf die Corona-Pro­test­be­we­gung eine neue Quer­front. Der Baseler Sozio­loge Oliver Nachtwey hat für die Hein­rich-Böll-Stif­tung mit Blick auf Baden-Würt­tem­berg erhoben, dass sich die Quer­den­ken-Szene stark aus dem anthro­po­so­phi­schen Milieu und der Alter­na­tiv-Szene speist. Warum ist die Bewe­gung so divers?

Speit: Mit dem Begriff „Quer­front“ wäre ich vor­sich­tig. Es ist ganz offen­sicht­lich, dass ein grünes und linkes Kli­en­tel sich teil­weise zur Quer­den­ker-Szene ori­en­tiert, sie trägt. Ob dieses wirk­lich geschlos­sene linke Welt­bil­der hat? Ich greife erneut deren Argu­ment der Unver­sehrt­heit ihres Körpers auf, das mit dem Igno­rie­ren des Schut­zes der anderen ein­her­geht. Das ist nicht soli­da­risch, nicht links, das ist egoman und egozentrisch.

Sie wollen eine Ver­zau­be­rung der ent­zau­ber­ten Welt, der eine Sehn­sucht nach einer ver­meint­lich natür­li­chen Ursprüng­lich­keit inne­wohnt. Dieser anti­mo­derne Reflex eint, egal ob er nun eso­te­risch oder völ­kisch begrün­det wird – bis heute.“ 

Anders gefragt: Warum ist das eso­te­ri­sche Milieu so anfäl­lig für rechte Denkmuster?

Speit: Die gemein­same Affi­ni­tät ist: Die Moderne wird als Utopie abge­lehnt. In der ersten Lebens­re­form­be­we­gung des 19. Jahr­hun­derts haben wir auch schon linke und rechte Posi­tio­nen und Struk­tu­ren, die Ratio­na­li­tät und Logik, Kapi­ta­lis­mus und Urba­ni­sie­rung hin­ter­fra­gen. Sie mahnen eine zu tiefe Ent­frem­dung des Men­schen von sich selbst, den Mit­men­schen und der Natur an. Sie wollen eine Ver­zau­be­rung der ent­zau­ber­ten Welt, der eine Sehn­sucht nach einer ver­meint­lich natür­li­chen Ursprüng­lich­keit inne­wohnt. Und dieser anti­mo­derne Reflex eint, egal ob er nun eso­te­risch oder völ­kisch begrün­det wird – bis heute. Vor diesem Hin­ter­grund über­rascht es dann nicht, dass bei diesen Pro­tes­ten Leute neben­ein­an­der­ste­hen, bei denen man vom Outfit denken würde, die passen nicht zusam­men. Aber Regen­bo­gen­fah­nen können neben Reichs­fah­nen im Wind stehen, wenn man die Auf­klä­rung kom­plett negiert.

Was bedeu­tet das für die Linke, wenn nicht nur Kon­ser­va­tive nach rechts abdrif­ten, sondern auch „die eigenen Leute“?

Speit: Das bedeu­tet, dass „die eigenen Posi­tio­nen“ viel zu spät kri­tisch reflek­tiert wurden und werden. Nur weil jemand alter­na­tive Medizin bevor­zugt, Wal­dorf­schu­len besucht, vegan lebt, Auto-Sharing nutzt und und und, muss er nicht frei sein vom anti­auf­klä­re­ri­schen Denken, rechten Res­sen­ti­ments und auto­ri­tä­rem Cha­rak­ter. Die Über­ra­schung bei den ersten soge­nann­ten „Hygiene-Demos“ vor der Ber­li­ner Volks­bühne spie­gelte die eigene Unreflektiertheit.

Welche Unter­schiede gibt es zwi­schen Ost und West?

Speit: Die aktu­elle Studie der Hein­rich-Böll-Stif­tung Baden-Würt­tem­berg sagt konkret zu Sachsen, dass die Pro­test­be­we­gung dort von Anbe­ginn weit mehr als im Westen von rechten Kräften getra­gen wurde.

Ver­bin­den­des Motiv aber bleibt das Miss­trauen gegen „die da oben“?

Speit: Das Miss­trauen gegen „die da oben“ findet man in der tiefs­ten Ost-Provinz und in der tiefs­ten baye­ri­schen Provinz. Und das geht einher mit einem zutiefst anti­de­mo­kra­ti­schen Denken.

Bei einigen der Besorg­ten brechen jedoch in der Pan­de­mie der latente Ras­sis­mus, Rechts­extre­mis­mus und Anti­se­mi­tis­mus auf.“ 

Wie lassen sich solche anti­de­mo­kra­ti­schen und anti-staat­li­chen Hal­tun­gen eines grö­ße­ren Teils der Bevöl­ke­rung wieder ein­fan­gen? Muss es mehr Dialog mit Impf-Skep­ti­ke­rin­nen und anderen Kri­ti­kern der Corona-Maß­nah­men geben?

Speit: Mehr Dialog? Da wäre ich lieber vor­sich­tig. Wir sehen ja gerade in Sachsen, dass das „Ich-rede-mit-allen“-Konzept von Minis­ter­prä­si­dent Michael Kret­schmer eher nicht so funk­tio­niert hat, wie er sich das viel­leicht erhofft hat. Ein Teil der Bewe­gung ist damit nicht ein­ge­fan­gen worden, er hat sich weiter radi­ka­li­siert und fühlt sich ermu­tigt, Politiker:innen vor Ort zu bedro­hen. Von diesen Leuten wird das Dialog-Angebot als Legi­ti­ma­tion ihrer Haltung miss­ver­stan­den. Wenn es eine Mög­lich­keit geben soll, wieder mit­ein­an­der ins Gespräch zu kommen, dann eher im pri­va­ten und klei­ne­ren Rahmen.

Geg­ne­rin­nen und Gegner der Maß­nah­men zur Bekämp­fung der Pan­de­mie behaup­ten ja oft Ängste. Aber werden die nicht vor­ge­scho­ben, um Res­sen­ti­ments zu bedienen?

Speit: Die Sorgen und Ängste sind berech­tigt. Bei einigen der Besorg­ten brechen jedoch in der Pan­de­mie der latente Ras­sis­mus, Rechts­extre­mis­mus und Anti­se­mi­tis­mus auf. In Kri­sen­zei­ten bricht die „rohe Bür­ger­lich­keit“ durch den dünnen huma­nis­ti­schen Firnis.

Der Prä­si­dent des Zen­tral­rats der Juden, Josef Schus­ter, for­derte als Reak­tion auf die Corona-Pro­teste einen gesell­schaft­li­chen Kli­ma­wan­del. Haben Sie eine Idee, wie der gelin­gen kann?

Ein gesell­schaft­li­cher Kli­ma­wan­del ist wahr­lich ein drin­gen­des Ziel. Die Zer­stö­rung der Ver­nunft durch das Quer­den­ken-Spek­trum bedingt, dass es keine gemein­sa­men Wahr­hei­ten mehr gibt. Ohne einen gesell­schaft­li­chen Konsens über die Wirk­lich­keit geht aber die gesell­schaft­li­che Soli­da­ri­tät verloren.

 


Andreas Speit, Jahr­gang 1966, ist Diplom-Sozi­al­öko­nom, freier Jour­na­list, unter anderem für die „taz“, und Buch­au­tor. Im Juni 2021 erschien von ihm im Ch. Links Verlag das Buch „Ver­que­res Denken. Gefähr­li­che Welt­bil­der in alter­na­ti­ven Milieus“. Für den im Novem­ber 2021 im Metro­pol-Verlag von Wolf­gang Benz her­aus­ge­ge­be­nen Sam­mel­band „Quer­den­ken. Pro­test­be­we­gung zwi­schen Demo­kra­tie­ver­ach­tung, Hass und Aufruhr“ ver­fasste Speit den Beitrag „Anti­mo­der­ner Reflex mit langer Tra­di­tion. Quer­den­ken und Corona-Leugnen als Strö­mung der Lebensreformbewegung“.

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