Feldanalyse – Gegenmedien als Radikalisierungsmaschine
In den letzten Jahren – insbesondere seit dem Konflikt um die Flüchtlingspolitik 2015 und dem Ausbruch der Coronakrise – hat sich in der Bundesrepublik wie in anderen westlichen Ländern eine aggressive Gegenöffentlichkeit gebildet. Ihre Domäne sind das Internet und insbesondere die „sozialen Medien.“ Diese systemoppositionelle Gegenöffentlichkeit – in ihrem eigenen Sprachgebrauch „alternative Medien“ – ist für einen relevanten Teil der Bevölkerung zu einer wichtigen, wenn nicht sogar zur maßgeblichen Informationsquelle geworden. Das zeigen die großen Abo- und Aufrufzahlen dieser Medien und Kanäle, aber auch ihre Mobilisierungskraft für die Corona-Demonstrationen im Jahr 2020. Politisch haben diese Medien und Propagandakanäle die Funktion einer Radikalisierungsmaschine.
Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen waren Kristallisationspunkt für eine latente Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen. Die Corona-Krise wurde zum Ventil für eine aggressive Proteststimmung, die sich in den demokratischen Parteien nicht mehr repräsentiert sieht. Für relevante Teile der Bewegung geht es nicht nur gegen diese oder jene Maßnahme, sondern gegen „das System“.
Man kann diese breite, bundesweite Protestbewegung nicht als bloßes Bündnis von Nazis und esoterischen Spinnern abtun. Das verkennt die Vielfalt von Motiven und soziokulturellen Milieus, die bis in die ehemalige Alternativbewegung und die akademische Mittelschicht reichen. Es handelt sich nicht (mehr) um vereinzelte Proteste gegen konkrete politische Entscheidungen (s. Stuttgart 21, Einwanderungspolitik, Steuerpolitik etc.), sondern um ein oppositionelles Protestmilieu, das sich weitgehend aus dem öffentlichen Kommunikationsraum verabschiedet hat, der durch die etablierten Parteien, traditionelle Medien und Vertrauen in die Wissenschaft geprägt ist. Das systemoppositionelle Milieu findet eine Gegenöffentlichkeit vor allem im Internet und im schwerer einsehbaren „Dark Social“ verschiedener Chat-Gruppen.
Das Spektrum dieser Gegenmedien ist sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich ihrer Formate und Akteure vielfältig. Unter ihnen finden sich gedruckte Magazine, Nachrichten-Websites, Telegram-Gruppen, Podcast- oder digitale TV-Formate auf Youtube und anderen Video-Hosting-Plattformen, Twitter- oder Facebook-Kanäle und kommerzielle Verlagshäuser mit unterschiedlichen Reichweiten. Teilweise haben ihre Akteure einst für etablierten Medienhäuser gearbeitet, es gibt aber ebenso Neulinge im Mediengeschäft. Unter ihnen sind politische Aktivistinnen von rechts und links, Esoteriker, Verschwörungsideologen oder Impfgegnerinnen. Die Medien unterscheiden sich sowohl in ihrer Tonalität als auch in der politischen Selbstverortung und Schwerpunktsetzung. Für die Analyse dieses Phänomens wie für mögliche Gegenstrategien ist ein wichtiger Befund, dass sich viele „Gegenmedien“ politisch nicht eindeutig im links-rechts-Schema verorten lassen. In ihrer Gesamtheit bilden sie ein breites politisches Spektrum ab.
Trotz aller Differenzen haben die Gegenmedien etwas gemeinsam: ihre Abgrenzung von etablierten öffentlich-rechtlichen und privaten Medien, denen das Aussparen unbequemer Wahrheiten, die Interessenvertretung „der Herrschenden“ oder gar Zensur unterstellt wird. So befeuern sie ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der repräsentativen Demokratie und ihren Institutionen. Ihnen kommen dabei sowohl die Algorithmen der Sozialen Medien zugute, die radikale und polarisierende Inhalte bevorzugen, als auch eine zunehmende Distanz zur repräsentativen Demokratie, das bis in die gesellschaftliche Mitte reicht.
Die Gegenmedien sind damit ein Indikator für ein Missvergnügen an der liberalen Demokratie, das sie aufgreifen und systematisch verstärken. Umfragen zeigen seit Jahren, dass das Vertrauen in demokratische Institutionen, Amtsträgerinnen und ‑träger in vielen westlichen Gesellschaften erschüttert ist. Dabei kann das Vertrauen in die Politik in Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder den USA noch als gefestigt gelten.[1] In Studien der vergangenen Jahre wie z.B. der Mitte-Studie 2020/21 zeigt sich zwar eine deutliche Mehrheit der Befragten als überzeugte Demokratinnen und Demokraten. Gleichzeitig wachsen die Grauzonen, in denen sich Befragte ambivalent gegenüber rechtsextremen, menschenverachtenden oder verschwörungsideologischen Positionen verhalten und aus dem demokratischen Diskurs zurückziehen.[2]
Diese prinzipielle Offenheit für radikale Positionen wird auch von Studien bestätigt, die eine sich verstetigende Corona-Protestbewegung in den Blick nehmen. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung etwa kommt zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Corona-Bewegung aus einem Teil der politischen Mitte stammt, der sich von Parlamentsparteien nicht repräsentiert fühlt und den staatlichen Institutionen misstraut. In diesem Misstrauen steckt ein Radikalisierungspotential, das auch durch Gegenmedien angeheizt wird.[3]
Die systemoppositionelle Gegenöffentlichkeit setzt vor allem auf Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft. Ein erneutes Zusammenfinden in gemeinsamen Diskursräumen wird auf diese Weise zunehmend erschwert und immer weniger wahrscheinlich. Für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Zukunft der liberalen Demokratie ist dieser Befund besorgniserregend, sind doch gemeinsame Räume die Voraussetzung dafür, sich im gesellschaftlichen Diskurs über Ausgleich und Kompromisse zwischen widerstreitende Interessen verständigen zu können. Nicht zu unterschätzen ist auch die steigende Akzeptanz von hate speech gegen Gruppen und Personen, die in vielen Gegenmedien genutzt und damit normalisiert wird.
Nicht alle Gegenmedien hantieren mit offenkundig antidemokratischen Positionen. So ist die Kritik am Kapitalismus oder an Defiziten der Parteiendemokratie nicht per se antidemokratisch. Auch die Debatte über das Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Sicherheit bzw. Gesundheit ist legitim. Das machte z.B. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble deutlich, als er sagte, man dürfe dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen. Schließlich gehört Medienkritik seit jeher zur Medienlandschaft.
Die „alternativen Medien“ greifen diese Debatten und Kritikmotive auf, radikalisieren sie und wenden sie gegen demokratische Institutionen und Politik. Sie bilden damit ein Scharnier zwischen der bürgerlichen Mitte und radikalen Randzonen. So wird Kritik an Kapitalismus und Lobbyismus schnell zur Verschwörungstheorie. Herrschaftskritik und Elitenskepsis schwenkt um in eine antidemokratische Frontstellung von „Volk und Eliten“. Kritik an den bedenklichen Einschränkungen von Freiheitsrechten durch die Corona-Maßnahmen kippt in den Vorwurf einer „Coronadiktatur“. Medienkritik wird heruntergebrochen auf die Unterstellung, die etablierten Medien seien manipulative „Systemmedien“.
Die vorliegende Analyse versucht, das Feld der systemoppositionellen Gegenöffentlichkeit mit ihrem breiten Spektrum von Medien und inhaltlichen Positionen zu beschreiben. Dabei begreifen wir die Gegenöffentlichkeit als ein heterogenes Feld, in dem radikale verschwörungstheoretische Positionen genauso zu finden sind wie sich gemäßigt präsentierende Medien, die eine Scharnierfunktion zwischen legitimer politischer Kritik und radikalisierter Gegenöffentlichkeit einnehmen.
Beschreibung des Feldes
Wir haben ein Feld von ca. 50 Medien und Kanälen abgesteckt und im September 2021 anhand verschiedener formaler und inhaltlicher Marker näher betrachtet und eingeordnet.
Reichweiten (Likes, Abos, Aufrufe) und Meinungsmacht
Als Kriterium für eine erste Einschätzung der Relevanz haben wir die Anzahl von Likes, Abonnements oder Aufrufen erhoben.[4]
Die 10 reichweitenstärksten Kanäle je Plattformen (alle Zahlen Stand Oktober 2021):
Facebook
Epoch Times Panorama [5] (669.000 Likes, 888.200 Abos)
RT DE [6] (527.700 Likes, 629.200 Abos)
Tim K. [7] (Tim Kellner) (282.600 Abos)
Freie Medien [8] (286.000 Likes, 278.700 Abos)
SNA [9] (ehemals Sputnik) (216.700 Likes, 218.200 Abos)
Deutschland Kurier [10] (80.600 Likes, 100.200 Abos)
NachDenkSeiten [11] (92.600 Likes, 100.200 Abos)
Deutsche Wirtschafts Nachrichten [12] (93.900 Likes, 92.400 Abos)
Boris Reitschuster [13] (87.900 Abos)
NEOPresse [14] (61.700 Likes, 62.900 Abos)
Telegram
reitschuster.de (233.000 Subscriber)
Eva Herman Offiziell [15] (181.000 Subscriber)
Oliver Janich öffentlich [16](159.000 Subscriber)
Alles Ausser Mainstream [17](Bodo Schiffmann) (153.000 Subscriber)
Qlobal-Change (149.000 Subscriber)
Freie Medien [18] (134.000 Subscriber)
Samuel Eckert [19] (123.000 Subscriber)
apolut [20](ehemals KenFM, Ken Jebsen) (122.000 Subscriber)
Auf1 [21] (118.000 Subscriber)
Fakten Frieden Freiheit [22] (110.000 Subscriber)
Roland Tichy [23] (289.000 Follower)
Boris Reitschuster [24] (100.900 Follower)
Die Achse des Guten [25] (52.200 Follower)
apolut.net [26] (ehemals KenFM) (48.600 Follower)
RT DE [27] (48.600 Follower)
NachDenkSeiten [28] (36.300 Follower)
COMPACT-Magazin [29] (31.300 Follower)
Gunnar Kaiser [30] (23.100 Follower)
Oliver Janich [31] (17.300 Follower)
Epoch Times DE [32] (13.000 Follower)
Youtube
RT DE [33] (612.000 Abos), gesperrt
Tim Kellner [34] (373.000 Abos)
Boris Reitschuster [35] (332.000 Abos)
Gunnar Kaiser [36](222.000 Abos)
SchrangTV [37](Heiko Schrang) (174.000 Abos)
Politik Spezial – Stimme der Vernunft [38](173.000 Abos)
COMPACTTV [39]des COMPACT-Magazins (151.000 Abos)
CGArvay [40](Clemens Arvay) (132.000 Abos)
Tichys Einblick [41] (129.000 Abos)
Achgut.Pogo [42] (Die Achse des Guten) (103.000 Abos)
Die Zahlen aus den sozialen Medien können einen Hinweis auf die Reichweiten geben. Sie bestätigen den Eindruck, dass bestimmte Medien wie RT DE, Apolut (Ken Jebsen), Reitschuster oder Compact große Bedeutung für das Feld der systemoppositionellen Gegenmedien haben. So trendete in den vergangenen Monaten immer wieder #reitschuster auf Twitter. Andererseits erreichen Akteurinnen und Akteure, die eine große mediale Aufmerksamkeit erfahren oder häufig geteilt werden, wie z.B. die Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand um den Dramatiker Anselm Lenz(Facebook: 1.700, Telegram: 5.300, Instagram: 5.200) oder das Portal Rubikon (Telegram: 9.400), überraschend niedrige Zahlen in sozialen Netzwerken. Allerdings sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Zum einen werden die Postings der Seiten von den Plattformbetreiberinnen nicht automatisch an alle Abonnentinnen und Abonnenten ausgespielt. Zum anderen ist bekannt, dass sich die Abonnementzahl mit unlauteren Praktiken künstlich erhöhen lässt. Die Zahlen stellen also allenfalls Anhaltspunkte dar.
Die meisten systemoppositionellen Medien veröffentlichen auf klassischen Websites oder in Blogformaten. Die Zugriffszahlen sind für Außenstehende technisch nicht zu erheben. Aussagen über die Reichweite von Webseiten können deshalb nicht getroffen werden. Über Umwege wie Statistiken von Suchmaschinen können lediglich Trends abgelesen werden. Einen valideren Hinweis auf die Reichweite der Webseiten geben Statistiken über die Häufigkeit von geteilten Internetdomains aus sozialen Netzwerken. Verbreitungsstark sind auch Medien, welche größtenteils oder ausschließlich Content anderer Medien weiterverteilen – z.B. Freie Medien oder uncutnews.ch, aber auch Eva Herman Offiziell auf Telegram. Das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) hat für einen Zeit-raum von vier Wochen vor bis zur Bundestagswahl am 26. September 2021 die fünf folgen-den auf Telegram meistgeteilten Internetdomains der „Alternativmedien“ ausgemacht: uncutnews.ch, de.rt.com (RT DE), epochtimes.de, reitschuster.de, report24.news. [43]
Vielfalt der Medien und Auswahl der Medienkanäle
Die beobachteten Medien nutzen Facebook, Twitter, Youtube, Telegram, Nachrichten-seiten, Blogs, digitale TV-Formate, crossmediale Angebote und gedruckte Magazine. Die Vielfalt ist groß und lässt sowohl auf die angepeilte Zielgruppeschließen als z. B. auch auf das Bestreben, in der Medienlandschaft seriös zu wirken. So liegt etwa Tichys Einblick als gedrucktes Monatsmagazin vor (Druckauflage 65.000 [44]). Die Publikation versammelt auch renommierte Autorinnen und Autoren, die sich anscheinend genauso wenig wie ihre Leserinnen und Leser an populistischen Tönen bis hin zur Verächtlich-machung der parlamentarischen Demokratie und ihrer Repräsentanten stören. Der namensgebende Publizist Roland Tichy ist auch auf Twitter reichweitenstark (289.000 Follower [45]). Das deutlich radikalere QuerfrontmagazinCompact liegt ebenfalls an Kiosken aus und versucht sich auch an Online-TV-Formaten. Hier liegt der politische Extremismus offen zutage.
Die Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand tritt wiederum nicht nur als Veranstalterin von Corona-Demonstrationen auf, sondern gibt auch eine gedruckte Wochen-zeitung heraus, die auf Veranstaltungen verteilt wird, im Abonnement und als PDF-Download erhältlich ist. [46]
„Alternative“ Nachrichtenformate sind mit einem großen Output an unterschiedlichen Themen auf Facebook präsent. Facebook ist eine Plattform, die vor allem für eine Altersgruppe ab 35 Jahren relevant ist. Die große Präsenz auf Facebook und die gleichzeitig geringe Präsenz auf Plattformen wie Instagram oder TikTok, die für Jüngere attraktiv sind, lässt auf die demographische Struktur der Zielgruppe der systemoppositionellen Medien schließen. Sind die Medien auf Instagram aktiv, sind die Abonnementzahlen deutlich geringer als bei Facebook. Auf TikTok findet sich fast kein Medium des betrachteten Feldes. Auf Facebook sehr präsent ist z.B. das deutschsprachige Angebot des russischen StaatssendersRT DE [47] (527.700 Likes, 629.200 Abos) oder die deutschsprachige Online-Version der aus dem Falun Gong-Umfeld stammenden Epoch Times [48](669.000 Likes, 888.250 Abos). Beide profitieren vom Algorithmus der Plattform – einzelne Artikel zu im Umfeld der Gegenmedien stark polarisierenden Themen wie „Impfpflicht“ oder Migration erreichen deutlich größere Reichweiten als Texte zu weniger emotionalisierten Themen. Generell gilt, dass algorithmusbasierte Anbieterinnen und Anbieter bei Gegenmedien beliebt sind.
Immer wieder sperren oder löschen Facebook, Youtube oder Twitter Konten, die gegen ihre Richtlinien verstoßen – etwa wegen der Verbreitung von Hass oder falsch deklarierten Unwahrheiten. Die gesperrten Inhaltsanbieter wandern mit ihren problematischen Inhalten in die Nischen „alternativer“ Plattformen wie Telegram oder zum Video-Hosting-Dienst Bitchute. Telegram gilt auch aus diesem Grund als zentrale Plattform für verschwörungsideologische Akteurinnen und Akteure. Radikale Accounts wie jene aus dem rechtsextremen QAnon-Umfeld finden sich vor allem bei diesem Messenger-Dienst, wo sie weder Kontrolle noch Löschung fürchten müssen. Das gilt für Qlobal-Change (150.000 Subscriber [49]) oder Q‑Anons (24.800 Mitglieder [50]).
Auf Plattformen wie Telegram oder Bitchute sind die Inhalte zwar weniger sichtbar, gleichzeitig wegen fehlender Regulierung radikaler. Zuletzt häuften sich die Sperrungen auch im Zusammenhang mit den Corona-Protesten und der Verbreitung von Verschwörungstheorien. So sperrte Facebook im September 2021 knapp 150 Konten und Gruppen aus dem Umfeld der „Querdenker“-Bewegung, u.a. auch das Konto von Michael Ballweg, dem Gründer von „Querdenken711“ in Stuttgart. Ende September 2021 sperrte Youtube die Kanäle von RT DE wegen Desinformation über Covid-19. Die Beweglichkeit in Bezug auf die Wahl der Kanäle und damit verbundenen Zielgruppen sowie der relativ flexible Umgang mit Sperrungen ist ein Merkmal vieler Gegenmedien. Viele Kanäle experimentieren mit neuen Formaten – Compact etwa baute jüngst COMPACTTV auf. Ein weiteres Beispiel ist der Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen, der sich und sein Medium KenFM immer wieder neu erfand. Nachdem z.B. Ende 2020 sein Youtube-Kanal mit zuletzt fast 500.000 Abos gesperrt worden war, verlagerte Jebsen seine Aktivitäten zunächst auf Telegram und launchte das crossmediale Medienprojekt apolut (Telegram: 122.000 Subscriber) – dieses Beispiel wird Erkenntnisse über Erfolg oder Misserfolg der Strategie des sogenannten Deplatformings [51] liefern können.
Vernetzung und zentrale Akteurinnen und Akteure
Es gibt zahlreiche Verbindungen zwischen diversen Gegenmedien. Vor allem auf den Telegram-Kanälen werden viele Inhalte anderer systemoppositioneller Medien geteilt.
Einige Medienhäuser und Akteure sind bei der Vernetzung besonders aktiv: Ken Jebsen als gefragter Gesprächspartner oder Jürgen Elsässer, der u.a. mit den regelmäßigen Compact-Themenkonferenzen prominente Szene-Gäste anwirbt und auch internationale Vernetzung betreibt.
RT DE kann in vielerlei Hinsicht als Leitmedium der Gegenöffentlichkeit gelten. Das deutschsprachige Web- und Onlinefernsehportal ist Teil des mehrsprachigen RT-Netzwerks mit Sitz in Moskau. Aufgrund der Finanzierung durch den russischen Staat ist RT mit seinen finanziellen Ressourcen, seiner professionellen Infrastruktur und den angestrebten 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Feld der Gegenmedien konkurrenzlos. Und obwohl RT DE die Sendelizenz für Deutschland verwehrt worden ist, ist die Reichweite enorm. Regelmäßig schafft es RT DE mit der Zahl an Interaktionen und Shares einzelner Beiträge auf Facebook und Twitter unter die Top-100 des Rankings des Onlineanbieters 10000 Flies. RT gilt als Instrument eines Informationskriegs gegen den Westen [52] und das Selbstverständnis als Gegengewicht zu den „westlichen Medien“ trifft auf Resonanz beim Publikum der Gegenmedien. RT DE ist wegen seines großen thematischen Portfolios, der einseitig antiamerikanischen und prorussischen Berichterstattung, und jüngst auch einer impfskeptischen Grundhaltung als „Alternative“ zu den etablierten Medien nach rechts wie links anschlussfähig. RT DE gibt prominenten Gesichtern der systemoppositionellen Gegenöffentlichkeit wie Ken Jebsen oder Jürgen Elsässer in Interviews oder Talkrunden eine Bühne. Über Corona-Proteste wurde u.a. ausgiebig mit Live-Übertragungen berichtet. Im September 2021 sperrte Youtube die Kanäle von RT DE wegen Desinformation zu Covid-19.
Eine prominente Person der Gegenmedien ist Kayvan Soufi-Siavash alias Ken Jebsen. Seine Bekanntheit nutzt der ehemalige RBB-Moderator und Verschwörungsideologe auch für die Vernetzung innerhalb der Gegenöffentlichkeit. Jebsen ist häufig in anderen systemoppositionellen Medien präsent, so war er zu Gast bei SchrangTV, Gunnar Kaiser oder Jürgen Elsässer, im Interview mit der Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand oder als Redner bei den „Mahnwachen“ und später bei „Querdenken“ in Stuttgart. Jebsen selbst betont, die politischen Kategorien von rechts und links seien überholt und spricht ein entsprechendes Publikum an. Seine fundamentale Medienkritik, Themen wie 9/11, genauso wie seine Überzeugung, die parlamentarische Demokratie sei ein Täuschungsmanöver, teilt er mit der „Querdenken“-Bewegung. Die antisemitischen Verschwörungstheorien machen Jebsen anschlussfähig nach ganz rechts wie auch nach links, wo Antiimperialismus und Antiamerikanismus verbreitet sind. Wegen der Verbreitung von Desinformation und Verschwörungsmythen stufte der Verfassungsschutz Berlin KenFM 2021 als Verdachtsfall ein. Nach mehreren Sperrungen launchte Jebsen im Sommer 2021 apolut.
Der einst linke Publizist Jürgen Elsässer und das Compact-Magazin, seit 2020 vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall beobachtet, sind ein Scharnier in die extreme Rechte. Während Compact früher versuchte, mit Antiamerikanismus und Putin-Nähe auch ein linkes Spektrum anzusprechen, hat sich das Magazin inzwischen der Neuen Rechten angenähert. Die Inhalte des Magazins sind verschwörungsideologisch-antisemitisch, revisionistisch und rassistisch, antiwestlich, die Aufmachung ist reißerisch. Elsässer tritt regelmäßig als Redner auf, er sprach bei Pegida und tauschte sich mit Samuel Eckert und Oliver Janich über „Querdenken“ aus. Mit dem gedruckten Magazin, thematischen – z.B. geschichtsrevisionistischen – Spezialausgaben, dem Videoformat COMPACTTV und regemäßigen Live-Streams werden eine ganze Reihe von Kanälen abgedeckt. Zudem veranstaltete Compact mit dem Putin-nahen Institut für Demokratie und Zusammenarbeit regelmäßig Konferenzen mit teilweise prominenten Gästen – zu Gast waren u.a. Ken Jebsen, Thilo Sarrazin, der Dramatiker Rolf Hochhuth, SPD-Ostpolitiker Egon Bahr und der ehemalige Präsident der russischen Staatsbahn, Wladimir Jakunin, aber zunehmend kommen vor allem radikale Rechte wie Björn Höcke (rechtsnationaler „Flügel“ der AfD), Martin Sellner (Identitäre Bewegung), Götz Kubitschek (Neue Rechte), Lutz Bachmann (Pegida). Elsässer ist regelmäßig zu Gast bei RT DE.
Hintergrund der Medien, ihrer Protagonistinnen und Protagonisten
Der Hintergrund der diversen Akteure und Medien ist sehr unterschiedlich – dies betrifft die politische Verortung genauso wie die Arbeitsweise oder inhaltliche Positionen. Fast alle Protagonisten sind männlich. Einige sind erst seit Beginn der Corona-Pandemie im Mediengeschäft, wie z.B. Bodo Schiffmann und Michael Ballweg. Andere hatten sich bereits einen Namen gemacht, wie der frühere Chefredakteur der Wirtschaftswoche Roland Tichy, der in seinem Magazin eine Reihe renommierter Autorinnen und Autoren versammelt, Ex-Tagessschau-Sprecherin Eva Herman, der ehemalige RBB-Moderator Ken Jebsen oder der ehemals linke Publizist Jürgen Elsässer.
Einige der Medien existieren bereits seit mehreren Jahren – wie RT DE, KenFM oder das Compact-Magazin –, schafften es aber, in der Zeit der Covid-Pandemie ihre Reichweite zu erhöhen. Andere Kanäle haben sich direkt aus der „Querdenker“-Szene entwickelt und wurden zu einem einflussreichen Sprachrohr. Dies gilt vor allem für die Telegram-Kanäle des Verschwörungsideologen Bodo Schiffmann (153.000 Subscriber) [53] und des Aktivisten Samuel Eckert (123.000 Subscriber) [54].
Neben den Formaten unterscheiden sich auch Tonalität und Art der Inhaltsvermittlung sehr stark. Die einen vermitteln Positionen vor allem über „Andeutungen“, über für das Publikum verständliche Chiffren, Buzzwords oder Häme (z.B. Tim Kellner), andere arbeiten auf den ersten Blick journalistisch recht sorgfältig (z.B. Eva Herman), präsentieren sich als neutral, vermitteln Inhalte aber durch einseitige oder verzerrende Berichterstattung und Auslassungen (z.B. RT DE). Die einen konzentrieren sich auf Meinungsartikel (z.B. Achse des Guten), andere setzen radikale Aussagen vermittelt durch massenhaft Werbung für Bücher mit zugespitzten Titeln oder Produkte aus dem Bereich Survival oder Naturheil-kunde (z. B. Kopp Report, Bodo Schiffmann, Heiko Schrang). Außerdem gibt es aktivistische Kanäle, in denen vernetzt und mobilisiert wird (z.B. Bodo Schiffmann, Querdenken-711).
Politische Ausrichtung, Themenschwerpunkte und Abbildung eines breiten politischen Spektrums
Bei den Gegenmedien handelt es sich um ein Phänomen, das sich politisch nicht klar im links-rechts-Schema verorten lässt und ein breites politisches Spektrum abbildet. Wir haben mit einem Katalog aus 22 inhaltlichen Markern gearbeitet, der die Medien anhand von inhaltlichen Positionen mit Radikalisierungspotential, Themenfeldern und verwendeten Narrativen zu vergleichen und einzuordnen half. Grundlegend war dabei die Frage, welche Grundeinstellungen, Motive und Themen die jeweiligen Medien und Kanäle gemeinsam haben und welche sie unterscheiden.
Dabei zeigte sich, dass es die meisten Überschneidungen bei folgenden Markern gab: klare Position gegen etablierte und öffentlich-rechtliche Medien; Misstrauen gegenüber der repräsentativen Demokratie, ihrer Parteien und Institutionen bis hin zu deren offenen Ablehnung; extreme Polarisierung von Gut und Böse, die sich z.B. in der systematischen Entgegensetzung von „Elite“ und „Volk“ ausdrückt; Feindbildmarkierung und Personifikation von Feindbildern in realen Personen wie z.B. Angela Merkel, Bill Gates oder George Soros; verschiedene Verschwörungstheorien von der „Impfindustrie“ über den „Great Reset“ bis zum Anschlag auf das World Trade Center als „False Flag“-Aktion. Dies sind – neben der Kritik an den Corona-Maßnahmen – die Kerntopoi der Gegenmedien.
Ablehnung der etablierten Medien
Gegenmedien verstehen sich qua Selbstdefinition als „Alternative“. Sie nehmen für sich in Anspruch, über Themen zu berichten und Wahrheiten ans Licht zu bringen, die in den etablierten Medien nicht zu finden seien oder verschwiegen würden. Die Gegenmedien begreifen sich als mutiges Sprachrohr, das sich mit der Wahrheit gegen einen „Meinungsmainstream“ stellt. Deutlich wird dies z.B. in den Untertiteln oder Slogans der Medien: „Bodo Schiffmann – Alles außer Mainstream“, „Demokratischer Widerstand – Wider die Gleichschaltung!“, „Anti-Spiegel – Fundierte Medienkritik“, „Epoch Times – Wahrheit und Tradition“, „Nachdenkseiten – die kritische Website“, „reitschuster.de – Kritischer Journalismus. Ohne ‚Haltung‘. Ohne Belehrung. Ohne Ideologie.“. Dahinter steht ein Bild der etablierten Qualitätsmedien als Instrument der „herrschenden Klasse“. Dieser Topos vom „medialen Betrug am Volk“ ist anschlussfähig an verschwörungsideologische Narrative. Die Behauptung von systematischer Zensur (z.B. Boris Reitschuster, Compact, Fakten Frieden Freiheit, Samuel Eckert, Unzensuriert.at) ist sehr weit verbreitet, wird jedoch häufig nur angedeutet – hier treffen sich die Kanäle mit impfskeptischen Inhalten (z.B. RT DE, Reitschuster, Gunnar Kaiser, Bodo Schiffmann, Michael Ballweg, Unzensuriert.at, Carolin Matthie) mit jenen radikal verschwörungsideologischen Medien, die z.B. einen „Great Reset“ durch die Corona-Politik propagieren (z.B. Michael Mannheimer, Oliver Janich, Auf1 TV).
Volk gegen Eliten
Die Polarisierung und das Herunterbrechen komplexer Zusammenhänge und Interessenslagen auf ein simples Gut undBöse – am weitesten verbreitet in der Entgegensetzung „Elite und Volk“ – scheint die Gegenmedien auszumachen. Damit verbunden ist die Ablehnung der repräsentativen Demokratie, ihrer Parteien und Institutionen. Ihnen wird unterstellt, sie würden lediglich bestimmte Interessen einer mächtigen Minderheit gegen die Bevölkerungsmehrheit durchsetzen (z.B. Unzensuriert.at, Qlobal Change, Michael Ballweg, Samuel Eckert), in abgeschwächter Form geht es um die Feststellung eines Totalversagens der politischen Institutionen und ihres Personals (z.B. Tichys Einblick). Mit diesem Urteil werden häufig zugleich Legitimität, Sinn und Nutzen der demokratischen Institutionen infrage gestellt. Nicht selten öffnet sich so eine Tür zu einer antidemokratischen Haltung, ohne dass als Alternative unbedingt ein autoritärer Staat gefordert werden würde. Die Corona-Pandemie ist ein Kristallisationspunkt, an dem all diese inhaltlichen Stränge zusammenlaufen: Covid-19 gilt wahlweise als Beweis für das politische Totalversagen, als Erfindung der Pharmaindustrie oder als Instrument, dieBevölkerung entweder zu unterjochen oder mithilfe der Impfung genetisch zu verändern (z.B. Q‑Anons, Corona ist nicht das Problem, Fakten Frieden Freiheit, Eckert, Carolin Matthie, Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand). Den Medien wird gleichzeitig unterstellt, der Politik nach dem Mund zu reden und gleichgeschaltet zu sein.
Die systemoppositionellen Medien geben sich in ihrem Angriff auf Institutionen und Vertreterinnen der repräsentativen Demokratie häufig vordergründig als Verteidiger von Demokratie und Freiheit gegen mächtige Eliten (z.B.Kommunikationsbüro Demokratischer Widerstand, NachDenkSeiten). So fragwürdig das Demokratie- und Freiheitsverständnis vieler Akteurinnen und Akteure auch sein mag, ein expliziter Hang der Gegenmedien zu einem autoritären Staatsverständnis kann pauschal nicht festgestellt werden. Vielmehr werden teils anti-etatistische Töne angeschlagen.
Platter Antikapitalismus
Bei einigen anderen inhaltlichen Markern ist die Ausprägung sehr unterschiedlich. Kapitalismuskritik geht oft mit einem Hang zur Verschwörungserzählung einher. Teilweise dominiert ein sozialpopulistischer Ton – z. B. bei den NachDenkSeiten und ihrer obsessiven Kritik an der Agenda 2010 und dem sogenannten „Neoliberalismus“. Sie kann auch dominiert sein von antisemitischen und elitenfeindlichen Narrativen – so z.B. bei Compact, wo gesellschaftlichen Institutionen von den Medien bis zu den Parlamenten unterstellt wird, vermeintlichen Drahtziehern wie George Soros oder Bill Gates zu dienen. Indem Politik und Medien als willfährige Instrumente mächtiger Wirtschaftsinteressen globaler Konzerne oder als „Globalisten“ bezeichneter Eliten gelten, kann ein plumper und mit Ressentiments angereicherter, häufig auch antisemitisch konnotierter Antikapitalismus zu einem verbindenden Merkmal der systemoppositionellen Medien werden. Dieser Antikapitalismus ist häufig der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich über alle Differenzen hinweg von rechts bis links einigen kann.
Links-Rechts
Die Einteilung in linke und rechte Lager ergibt im Feld der systemoppositionellen Gegenöffentlichkeit kaum noch Sinn. Vielmehr gibt es Medien, die auf eine Weise argumentieren, wie man es bisher vor allem von der Linken kannte: antikapitalistisch, herrschaftskritisch, sozialkritisch, im Einzelfall antirassistisch. Die vorgeblich oder ehemals linken Medien beziehen inzwischen überwiegend Querfrontpositionen, bleiben aber aufgrund ihrer politischen Geschichte bzw. bestimmten Argumentationsmustern für einen Teil des links-alternativen Publikums anschlussfähig. DieKommunikationsstelle Demokratischer Widerstand, NachDenkSeiten, Rubikon, Gunnar Kaiser oder Ken Jebsen zählen dazu. Andere Medien wie Journalistenwatch, Deutschland Kurier oder Eva Herman beziehen mit fremdenfeindlichen Äußerungen Positionen, die als rechtradikal gelten können. Viele Medien spielen bewusst mit der Beobachtung, dass sich das Denken in politischen Lagern überholt habe. RT DE etwa bedient gezielt linke wie rechte politische Milieus.
Einigen der Medien nehmen für sich in Anspruch, „dem Volk“ als „Souverän“ wieder eine Stimme zu geben, die diesem vorgeblich durch eine politische Elite und die Altparteien genommen wurde. Die Unterscheidung von linken und rechten Positionen wird dort als Spaltungsinstrument und Ablenkungsmanöver verstanden. Jürgen Elsässer z.B. engagierte sich schon früh für eine Querfront [55]. 2009 z. B. gründete er die „Volksinitiative gegen das Finanzkapital“ mit dem Ziel, die politischen Reihen hinter einem Nationalstaat und in Abwehr internationaler Konzerne zu schließen. In dieselbe Richtung geht Elsässers floskelhafte Vorstellung auf Demonstrationen, die regelmäßig mit „… und meine Zielgruppe ist das Volk“ endet. Insbesondere vor dem Hintergrund seiner politischen Biografie ist die Botschaft klar: Links und Rechts treten zugunsten einer völkischen Idee zurück.
Rassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus
Antisemitismus ist aufgrund der verbreiteten Elitenfeindlichkeit und Verschwörungserzählungen als latentes Motiv nahezu permanent wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen vorhanden. Eine extreme Position nimmt hierbei Ken Jebsen ein, indem er ganz unverstellt das antisemitische Bild einer Weltverschwörung verbreitet. Eine Ausnahme bildet die Achse des Guten, die den Antisemitismus hinter Verschwörungstheorien und plattem Antikapitalismus scharf kritisiert. Auch bei anderen Aspekten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gibt es Unterschiede. Ein rassistischer oder islamfeindlicher Zugang zum Thema Migration ist zwar sehr verbreitet, unterschiedet sich aber im Ton. Einige Kanäle sind rassistisch und rechtsextrem (z.B. Tim Kellner, Compact, Q‑Anon, Politically Incorrect News) und nah am Topos der „Umvolkung“ oder des „großen Austauschs“. Andere behaupten eine gezielt oder fahrlässig herbeigeführte Gefährdung westlicher Lebensweise durch Einwanderung und den Islam, der meist mit Islamismus gleichgesetzt wird (z.B. Journalistenwatch, Unzensuriert, Qlobal Change, Michael Ballweg, Fakten Frieden Freiheit). Andere thematisieren Migration vor allem über Umwege, etwa mithilfe eines geschlechtlich konnotierten Täter-Opfer-Bildes – so wird z.B. der Eindruck erweckt, Muslime oder Nicht-Deutsche würden häufig deutsche Frauen vergewaltigen (z.B. Tim Kellner, Eva Herman, Journalistenwatch). KontextTV oder die NachDenkSeiten hingegen präsentieren sich als antirassistisch und grenzen sich gegen rechts ab. Die Epoch Times hat einen Fokus auf Minderheitenrechte, was sich mit dem Hintergrund der Zeitung aus dem Umfeld der in China verfolgten Falun-Gong-Sekte erklären ließe.
Feindbild „Gender“, Political Correctness, links-grüne Milieus
Eine kleine Zahl an Kanälen beschäftigt sich exzessiv mit dem Themenkomplex Selbstbestimmung in Bezug auf sex und gender – häufig verbrämt als „Gender-Wahn“ oder „Genderismus“ (z.B. Eva Herman, Reitschuster, Compact, Tichys Einblick, Q‑Anon, Corona-Reset). Hier ist z.B. die Behauptung einer „Frühsexualisierung von Kindern“ durch die Thematisierung und Repräsentation sexueller Vielfalt verbreitet (z.B. Eva Herman, Compact). Nicht selten wird auch, als Gegenposition zur Diskriminierung von Frauen und Nicht-Weißen, die Diskriminierung des weißen Mannes behauptet (z.B. Eva Herman, Compact, Epoch Times, Politically Incorrect News). Auffällig ist der hämische und menschenverachtende Zugang zu diesem Themenkomplex. Häufig wird eine rhetorische Schleife genutzt und mit dem Verweis auf LGBTIQ+ und eine political correctness der „Links-Grünen“ behauptet, dass der Staat die Bevölkerungsmehrheit benachteilige, um sich um „Randgruppen“ zu kümmern. Hierbei wird ignoriert, welch grundlegende Bedeutung Selbstbestimmungsrechte, der Schutz von Menschenwürde und der Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit für demokratische Gesellschaften hat.
Esoterik und Ökologie
Bei einigen Medien stehen die Themenkomplexe Esoterik, Anthroposophie, Naturmystik und Selbstheilungskräfte gegen eine Covid-19-Erkrankung im Zentrum (z.B. Clemens Arvay). In ihrer Kritik an der Entfremdung der modernen Gesellschaften und der Forderung nach einer Rückkehr zur Natur und Ursprünglichkeit treffen sich solche Kanäle häufig mit Medien, die eine ausgeprägte Wissenschaftsskepsis verbreiten. Sie sind häufig anschlussfähig an Theorien, die behaupten, die Covid-19-Impfung sei gesundheitsschädlich oder töte Menschen. Diese Theorien sind unter Querdenkerinnen oder Impfskeptikern weit verbreitet (z.B. Samuel Eckert, Bodo Schiffmann, Querdenken-711, aber auch RT DE, Reitschuster, Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand). Mit der Behauptung, hinter den Corona-Maßnahmen wie Tests oder Impfungen stünden in Wahrheit wirtschaftliche Interessen (z.B. Clemens Arvay), schließt sich der Kreis zu platten antikapitalistischen oder verschwörungstheoretischen Positionen (s.o.). Es gibt hier auch einige Besonderheiten: Der rechtsextreme Account von Heiko Schrang ist z.B. voll von esoterischem Wohlfühlcontent und ostasiatischer Meditationssymbolik.
Unterschiedliche Grade der Radikalisierung
Die Häufung bestimmter Marker wie Antisemitismus, Verschwörungsideologie, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Personifikation des Bösen, Ablehnung der repräsentativen Demokratie, Einsatz von Desinformation usw. kann einen Hinweis auf den Grad der Radikalisierung geben. Je mehr dieser Marker zu finden sind, umso radikaler, menschen- und systemverachtender erscheinen diese Medien. Das Radikalisierungspotential liegt letztlich in der wachsenden Entfremdung vom demokratischen System, die in vielen einzelnen Markern durchscheint und bei großer Häufung als gefestigt gelten kann.
In den Gegenmedien sind Verschwörungserzählungen in allen möglichen Ausprägungen sehr verbreitet. Auch sie sind ein deutliches Zeichen für eine Radikalisierung. In der Rede von Parteien und Regierungen als den „Eliten“ oder dem „Establishment“, den „bösen Mächten“, oft zusammengedacht mit wirtschaftlichen Interessen oder gleich der „Hochfinanz“, verbergen sich antisemitische Denkmuster.[56] Die systematische Polarisierung trägt außerdem ein Aufwiegelungspotential in sich: Wer sich als bedrohte Minderheit und an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlt, nimmt möglicherweise ein „Recht auf Widerstand“ in Anspruch. Diese Inanspruchnahme eines Widerstandsrechts ist häufig als Motiv im Zusammenhang mit tatsächlichen Hassverbrechen, mit Mord- und Terroranschlägen der letzten Jahre erkennbar.
Grundsätzlich ist zu beobachten, dass Konsumentinnen und Konsumenten auch moderater Medien im Randbereich des Gegenmedien-Feldes tendenziell sehr tolerant gegenüber extremen Haltungen sind oder diese sogar unterstützen. Solangeman in der Ablehnung vereint ist und es gegen „das System“ geht, erscheinen sonstige politische Bedenken nachrangig.Mitunter tauchen rassistische Kommentare und Artikel aus rechtsextremen Zeitungen zwischen Werbung und privaten Fotogrüßen auf (z.B. Eva Herman). Ein anderes Beispiel ist Epoch Times, wo unter einer Vielzahl ausdifferenzierter Artikel jene besonders gut laufen, die z.B. zugespitzt über „Massenmigration“ berichten, zudem häufen sich dorthetzerische Kommentare von Leserinnen und Lesern unter vordergründig moderaten Artikeln zu emotionalisierten Themen. Die große Toleranz der systemoppositionellen Gegenöffentlichkeit gegenüber Extrempositionen ähnelt den Beobachtungen auf Corona-Demonstrationen, wo sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer häufig der politischen Mitte, einem links-alternativen oder grünen Spektrum zurechnen[57], mit dem Verweis auf Meinungspluralismus aber auch gemeinsam mit Reichsbürgern und Rechtsextremen demonstrieren.
Ausblick
Die vorliegende Feldanalyse ist der Auftakt für das Projekt „Gegenmedien als Radikalisierungsmaschine“, mit dem wir die oppositionelle Gegenöffentlichkeit über einen Zeitraum bis Ende 2022 genauer untersuchen wollen. Neben einem regelmäßigen Monitoring ausgewählter Medien geht es darum, mit Fallstudien und Essays Argumentationsweisen und ideologische Muster zu analysieren sowie Grenzbereiche und Radikalisierungsmomente zu beschreiben.
Die Monitorings, Fallstudien und weitere Analysen werden auf der Projektwebsite www.gegneranalyse.de veröffentlicht und per Newsletter an Interessierte verschickt. Weiterhin werden die Inhalte in den sozialen Medien unter @gegneranalyse auf Facebook, Twitter und Instagram verbreitet.
Stand: Oktober 2021
Fußnoten
1. Vgl.: https://libmod.de/becker-das-misstrauen-in-die-politik-ist-erheblich-umfrage-cevipof-sciencespo/
2. 21 Prozent der Befragten halten es „für sinnlos“ sich politisch zu engagieren, 18 Prozent sehen „geheime Mächte“ für die Corona-Pandemie verantwortlich, 16 Prozent glauben, die regierenden Parteien „betrügen das Volk“ – mehr als doppelt so viele antworten hier mit „teils teils“. Vgl.: Zick, Küpper: Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung v. Franziska Schröter, Bonn 2021. Online abrufbar: https://www.fes.de/forum-berlin/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2021
3. Vgl.: Grande, Hutter, Hunger, Kanol: Alles Covidioten? Politische Potenziale des Corona-Protests in Deutschland, WZB, März 2021.
4. Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen, da sie z.B. nicht die Interaktionen abbilden.
5. https://de-de.facebook.com/EpochTimesPanorama/
6. https://www.facebook.com/rtde
7. https://de-de.facebook.com/autor.tim.k
8. https://www.facebook.com/FreieMedien2.0/
9. https://www.facebook.com/snanews.de
10. https://www.facebook.com/DK.Nachrichten/
11. https://de-de.facebook.com/NachDenkSeiten
12. https://de-de.facebook.com/DeutscheWirtschaftsNachrichten
13. https://www.facebook.com/reitschuster
14. https://www.facebook.com/neopr/
15. https://t.me/s/EvaHermanOffiziell
16. https://t.me/s/oliverjanich
17. https://t.me/s/AllesAusserMainstream
18. https://t.me/s/FreieMedienTV
19. https://t.me/s/samueleckert
20. https://t.me/s/KenFM
21. https://t.me/s/auf1tv
22. https://t.me/s/FaktenFriedenFreiheit
23. https://twitter.com/RolandTichy
24. https://twitter.com/reitschuster
25. https://twitter.com/Achgut_com
26. https://twitter.com/apolut_net
27. https://twitter.com/de_rt_com
28. https://twitter.com/NachDenkSeiten
29. https://twitter.com/COMPACTMagazin
30. https://twitter.com/GunnarKaiser
31. https://twitter.com/OliverJanich
32. https://twitter.com/EpochTimesDE
33. https://www.youtube.com/c/RTDE/videos
34. https://www.youtube.com/c/TimKellner
35. https://www.youtube.com/c/BorisReitschuster
36. https://www.youtube.com/c/GunnarKaiserTV
37. https://www.youtube.com/c/SchrangTV
38. https://www.youtube.com/c/PI-PolitikSpezial
39. https://www.youtube.com/c/COMPACTTV
40. https://www.youtube.com/c/CGArvay
41. https://www.youtube.com/c/TichysEinblick
42. https://www.youtube.com/c/AchgutPogo
43. Vgl.: CeMAS: Die Bundestagswahl 2021. Welche Rolle Verschwörungsideologien in der Demokratie spielen, Oktober 2021: https://cemas.io/publikationen/die-bundestagswahl-2021-welche-rolle-verschwoerungsideologien-in-der-demokratie-spielen/die-bundestagswahl-2021-welche-rolle-verschwoerungsideologien-in-der-demokratie-spielen.pdf, S. 73 ff.
44. http://www.businessad.de/sites/default/files/import/current/pdf/media_TichysEinblick.pdf
45. https://twitter.com/RolandTichy
46. Die Selbstaussage von 560.000 verteilten Exemplaren lässt sich nicht überprüfen.
47. https://www.facebook.com/rtdeepoch
48. https://de-de.facebook.com/EpochTimesPanorama/
49. https://t.me/QlobalChange
Der größte englischsprachige QAnon-Kanal hat 330.000 Abonnent:innen, der größte deutschsprachige 150.000. Vgl.: Miro Dittrich: Wie QAnon-Anhänger*innen die Bundestagswahl prägen: https://cemas.io/btw21/qanon/
50. https://t.me/QAnons_Deutschland
51. Deplatforming meint die Strategie, anstelle oder ergänzend zur inhaltlichen Auseinandersetzung, problematische Inhalte und ihre Anbier/innen auf digitalen Plattformen wie Sozialen Medien zu sperren.
52. 2012 sagte die RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan: „The Defense Ministry was fighting with Georgia, but we were conducting the information war, and what’s more, against the whole Western world.”, https://medium.com/dfrlab/question-that-rts-military-mission-4c4bd9f72c88
53. https://t.me/s/AllesAusserMainstream
54. https://t.me/s/samueleckert
55. „Es muss eine Koalition zur Verteidigung der nationalen Souveränität geben – von links bis zur demokratischen Rechten. Lafontaine sagt, sein Herz schlage links. Gauweiler sagt, er habe das Herz auf dem rechten Fleck.“ Jürgen Elsässer im Interview mit Galore, 2007. Abrufbar auf: https://juergenelsaesser.wordpress.com/2009/04/21/was-ahmadinedschad-wirklich-gesagt-hat/
56. Anette Kahane spricht von „Umwegbegriffen“, um den Hass auf „die als jüdisch wahrgenommene Komplexität auszudrücken“. S.: Anette Kahane: Down the rabbit hole. Verschwörungsideologien: Basiswissen und Handlungsstrategien. Amadeu Antonio Stiftung 2021: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/down-the-rabbit-hole-wissen-und-handeln-gegen-verschwoerungserzaehlungen-71991/
57. Vgl.: Studie von Nachtwey, Schäfer, Frei: Politische Soziologie der Corona-Proteste, 2020
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