Verachtung bis hin zum Hass: Feindbild Medien

„Lügenpresse!“ – dieser Vorwurf an etablierte Medien erlebt durch die Proteste und Aufmärsche im Zusammenhang mit den Corona-Schutzmaßnahmen einen Aufschwung. Über den Hintergrund eines politischen Kampfbergriffs
Es ist ein bedrohliches Szenario. Anfang Januar ziehen Hunderte Demonstranten vom Berliner Alexanderplatz zum ZDF-Hauptstadtstudio auf dem Boulevard Unter den Linden. Die Teilnehmer protestieren gegen die Corona-Maßnahmen und eine drohende Impfpflicht. Doch vor der Dependance des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird einmal mehr deutlich, worum es vielen der Teilnehmer wirklich geht. Die aufgeheizte Menge schreit „Lügenpresse“ und ruft ZDF-Mitarbeitern zu: „Zeigt euch!“ Während die Berliner Polizei den Haupteingang des Hauptstadtstudios mit einer Kette aus Beamten schützt, wünscht sich der rechtspopulistische Anmelder des Protests, Eric Graziani von der Gruppierung „Patriotic Opposition Europe“, dass die Presse „zum Schweigen gebracht wird“ – im Nebensatz heißt es dann sehr viel leiser: „natürlich friedlich“.
Von Pegida- zu Corona-Aufmärschen
Mittlerweile täglich hört man auf den Straßen und Plätzen der Bundesrepublik ein Wort, was lange Zeit nicht mehr sehr präsent gewesen ist. Der Gebrauch des Wortes „Lügenpresse“ lässt sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum nachweisen, erlebte während des Nationalsozialismus als Diffamierung etablierter Medien seine Hochkonjunktur. In den Jahren 2014 und 2015 wurde der Vorwurf durch die rassistische und asylfeindliche Pegida-Bewegung wiederbelebt. Der Beginn der Corona-Pandemie vor knapp zwei Jahren war parallel dazu der Startschuss für deutschlandweite Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen, die innerhalb kürzester Zeit eine starke Mobilisierungskraft entfalten.
Für Medienschaffende, die diese Proteste beobachten, ist vieles neu, anderes altbekannt. Während sich Redaktionen von Kiel bis München den Kopf darüber zerbrechen, wer da eigentlich auf die Straße geht und was die gemeinsam demonstrierenden Milieus aus linksalternativen Esoterikern und Rechtsextremisten verbindet, wurde vielen Kamerateams und Journalisten auf der Straße bewusst, dass sie Sicherheitsbegleitung für ihre Berichte von solchen Versammlungen benötigen.
Vielen Kamerateams und Journalisten wurde bewusst, dass sie Sicherheitsbegleitung für ihre Berichte von Corona-Versammlungen benötigen.“
Dass ausgerechnet Medienschaffende in den Fokus der Demonstrierenden rücken, ist kein Zufall, denn neben dem generellen Misstrauen gegenüber Wissenschaft, tiefer Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen und einem verbreiteten Hang zum Verschwörungsglauben eint die Corona-Demonstranten vor allem eines: eine Verachtung bis hin zum Hass auf die deutsche Medienlandschaft. Viele unterstellen diesen Medien, sie seine bis auf wenige Ausnahmen angeblich „gesteuert“, „kontrolliert“ oder bekämen von geheimen Mächten vorgeschrieben, was sie zu berichten hätten. Andere sind überzeugt davon, dass die Medien per se mit der Politik unter einer Decke steckten.
Der Einfachheit halber, und um all diese Vorwürfe zusammenfassen, bedienen sich zahlreiche Demonstranten der Vokabel „Lügenpresse“ oder alternativ auch „Systempresse“ – der Vorwurf einer systematisch gleichgeschalteten Medienlandschaft trat vor allem im Kontext der verschwörungsideologischen Proteste der vergangenen Jahre vermehrt auf, transportiert letztlich aber dieselbe Botschaft wie die „Lügenpresse“-Diffamierung.
Ursprünge des „Lügenpresse“-Vorwurfs
Die Verwendung des Begriffs hat Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert benutzten meist konservative Katholiken das Wort, um gegen die im Kontext der bürgerlichen Revolution entstandene liberale Presse zu mobilisieren. Nicht selten mit antisemitischem Unterton. Während „Lügenpresse“ in der Zeit des Ersten Weltkriegs insbesondere dafür benutzt wurde, die Berichterstattung der so genannten „Feindesländer“ zu beschimpfen, bedienten sich die Nationalsozialisten der Vokabel, um eine ihrer zahlreichen antisemitischen Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Die angebliche Steuerung der Medienlandschaft durch ein behauptetes „Weltjudentum“ wurde von den NS-Agitatoren mit dem Wort „Lügenpresse“ ausgedrückt. Historisch war das Wort stets antisemitisch konnotiert, und also verwundert es wenig, dass es sich auch heutzutage unter Rechtsextremisten, Antisemiten und Anhängern antisemitisch grundierter Verschwörungserzählungen großer Beliebtheit erfreut.
Während bei Aufmärschen der Neonazi-Szene gerne auch mal ganz unverblümt „Juden-“ statt „Lügenpresse“ gerufen wird – zum Beispiel 2020 von Mitgliedern der Neonazi-Partei „Die Rechte“ in Braunschweig oder von rechtsextremen Hooligans von „Dynamo Dresden“ im Sommer 2021 –, haben auch Antisemiten anderer politischer Lager den Begriff für sich entdeckt.
Als zum Beispiel im Frühjahr vergangenen Jahres der Nahost-Konflikt zwischen Gaza und Israel eskalierte, heizte sich auch in der Bundesrepublik die Stimmung bemerkbar auf. Tausende gingen in Solidarität mit der palästinensischen Seite auf die Straße, viele Demonstrationen verliefen friedlich, andere nicht. In Berlin-Neukölln kam es Mitte Mai zu Ausschreitungen auf der Sonnenallee. Dabei richtete sich die Aggression der propalästinensischen Demonstranten auch gegen Medienvertreter, die teilweise gezielt angegriffen und mit Pyrotechnik beworfen werden. Eine Gruppe männlicher Teenager etwa schrie „Lügen“- und „Zionistenpresse“ in eine Fernsehkamera. Auch im Nachgang des Protests wurden Berichterstatter in den sozialen Netzwerken aus dem Umfeld islamistischer Gruppen bedroht, beleidigt und angefeindet. Das Beispiel aus Neukölln zeigt: Unterschiedlichste Milieus machen sich der Diffamierung der „Lügen“- und „Systempresse“ zu eigen.
Ausdifferenzierte Presselandschaft in Deutschland
Doch was ist dran an dem Vorwurf einer gesteuerten Presse, die von der Politik diktiert bekomme, was sie zu schreiben hat? Fakt ist, dass die Bundesrepublik im europäischen Vergleich eine der vielfältigsten Medienlandschaften aufzuweisen hat. Von eher linken Zeitungen wie der taz und dem Freitag über zahlreiche eher liberal eingestellte Blätter reicht das Spektrum bis zur konservativen wie der Bild-Zeitung und rechten und rechtspopulistischen Publikationen von Tichys Einblick bis Junge Freiheit. Für niemanden sollte es in Deutschland ein Problem sein, ein Medium zu finden, dass mit der eigenen politischen Haltung zumindest halbwegs korrespondiert. Gleichzeitig gilt es, Beiträge von Redaktionen und Medienhäusern auszuhalten, die von eigenen Standpunkten abweichen, denn selbst extremistische und verschwörungsideologische Publikationen wie das rechtsextreme Compact-Magazin oder die Internetplattform PI-News sind nicht verboten. Presse- und Meinungsfreiheit sind in Deutschland auch aus historischen Gründen ein hohes Gut. Publikationen mit extremistischen Inhalten werden dennoch wie im Falle des Compact-Magazins vom Verfassungsschutz überwacht.
Die zunehmende Skepsis gegenüber der etablierten Medienlandschaft hinterlässt Spuren. Die Bundesrepublik rutschte 2021 erstmals im Pressefreiheits-Ranking der ‚Reporter ohne Grenzen‘ um zwei Plätze ab.“
Die zunehmende Skepsis gegenüber der etablierten Medienlandschaft hinterlässt Spuren. Die Bundesrepublik rutschte 2021 erstmals im globalen Pressefreiheits-Ranking der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ um zwei Plätze ab. Als Grund dafür wurden die zahlreichen Attacken, Bedrohungen und körperliche Übergriffe auf Journalisten im Rahmen von Corona-Demonstrationen genannt. Vor allem in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands ist es vielen Berichterstattern nicht mehr möglich, die Proteste ohne begleitende Security zu beobachten. Und auch auf dem in der Szene beliebten Messengerdienst Telegram werden einzelne Journalisten gezielt geoutet und private Details wie Adressen und Telefonnummern veröffentlicht.
Und so tragen ironischerweise all jene, die Journalisten etablierter Medien auf Demonstrationen als „Lügenpresse“ angreifen und gleichzeitig eine nach ihren Maßstäben freiere und unabhängigere Presse fordern, dazu bei, dass Journalisten in Deutschland immer weniger frei berichten können, bei der Arbeit beeinträchtigt oder in ihrer Unabhängigkeit gestört werden.
