Behauptungen:
„das System“
Die Behauptung, ein komplexes System arbeite im Interesse einiger Weniger gegen die Mehrheit der Bevölkerung
Die Rede von „dem System“ taucht in vielen so genannten „Alternativmedien“ auf. Mit dem Begriff, der selten ausgeführt oder definiert wird, wird meist eine allgemeine Opposition gegen eine komplexes gesellschaftliches und politisches Gefüge ausgedrückt. Die Rede von „dem System“ ist abwertend, stark simplifizierend und setzt einen grundsätzlichen Dualismus voraus – den von Böse und Gut, Macht und Ohnmacht, abgehoben und volksnah, aber auch ganz konkret von den „Schlafschafen“, also jenen, die sich vom „System“ einspannen und sich alles gefallen ließen, und den Wissenden, die „das System“ durchschaut zu haben glauben (> s. Behauptung „Systempresse“).
Die Rede vom „System“ ist zumeist eine gegen „das System“. Durch die Verwendung dieses großes alles umfassenden Begriffs wird so suggeriert, dass es keine oder kaum Einflussmöglichkeiten auf politische Entscheidungen in oder die Verfasstheit eines komplexen Gesellschaftsgefüges gebe. Die Politik, die Polizei, Behörden, aber auch Wirtschaft, Wissenschaft und Medien werden als ein System verstanden, das partiell oder gänzlich gegen die Bevölkerung und ihrer Interessen arbeite – Behauptungen von einer „Corona-Diktatur“, angeblich beeinflussten Wahlen, gesteuerten Medien, einer Polizei, die sich gegen „das Volk“ wende oder Politik, die gegen die Interessen der meisten Menschen arbeite, greifen dies auf.
Das Herunterbrechen von Funktionsweisen und Entscheidungsprozessen ist eine Vereinfachung komplexer gesellschaftlicher Mechanismen und Aushandlungsprozessen. Sie ermöglicht eine einseitige Schuldzuweisung an ein entpersonalisiertes staatliches Gefüge oder auch eine Gruppe, die man als einflussreich ausgemacht hat. Diese Frontstellung gegen „alles“ ist sehr bequem, da die eigene Position stets als die richtige und als Alternative erscheint. So wird Gemeinschaft erzeugt und auch Handlungsoptionen im Sinne eines Zusammenschlusses oder Aufstandes gegeben.
Das Herunterbrechen einer komplexen Realität auf eine simple Frontstellung des „Systems“ gegen das „Volk“ und ist auch deshalb problematisch, weil es ganz konkrete Feindbilder erschafft. Die Vorstellung, eine globale Interessensgruppe oder mächtige Elite halte ein System am Laufen, das sich eigentlich gegen die Bevölkerung richte, knüpft an verschiedene, teils antisemitische Verschwörungserzählungen an (> s. Behauptung „die da oben“, „die versteckte Agenda“).
In dem Begriff steckt immer auch die Ohnmacht gegenüber einer komplexen und ausdifferenzierten Gesellschaft, an der wir alle teilhaben (müssen). Die Kehrseite der wahrgenommenen eigenen Ohnmacht ist die als Übermacht wahrgenommene Macht eines ungerechten Staates – der Exekutive, Legislative und Judikative, die unter Umständen auch in Belange des persönlichen Lebens eingreifen.
In der Coronadebatte tauchte die Behauptung der Freiheitsbeschränkungen immer wieder auf – genauso wie die Wahrnehmung der Demokratie als „Scheindemokratie“. Der Vorwurf von der „Corona-Diktatur“ unterstellte den demokratischen Institutionen, in Wahrheit ein System zur Unterdrückung – diesmal nicht einer bestimmten Klasse, sondern des ganzen Volkes – darzustellen. Sie dienten letztlich angeblich der Unterdrückung eines behaupteten „Volkswillens“. Medien und Wissenschaft werden als Teil des Systems angesehen und mit in Haftung genommen. Aus dem angeblich unterdrückten „Volkswillen“ und dem Vorwurf der Scheindemokratie lässt sich eine Aufforderung zum Widerstand gegen das „System“ (> s. Behauptung „Widerstand als Pflicht“) ableiten – vom zivilen Ungehorsam (beim Widersetzen gegen polizeiliche oder behördliche Anordnungen) bis hin zu radikaleren Umsturzplänen. Gegen „das System“ zu sein hat darum auch etwas Rebellisches.